
Dies ist kein einfacher Beitrag. Vor fast schon einem Monat war ich für ein paar Tage in Danzig auf der Jahreskonferenz von euroclio. Das Programm der Konferenz lässt sich online noch einsehen. Wer noch nie bei einer Veranstaltung von euroclio war, dem sei dies an dieser Stelle vorab sehr empfohlen. Euroclio macht sehr gute und sehr wichtige Arbeit. Bei den Fortbildungsanstaltungen, Konferenzen und den Projekten trifft man motivierte und motivierende Kolleginnen und Kollegen aus ganz Europa und ich bin bisher immer mit tollen Eindrücken und Anregungen für die eigene Unterrichtspraxis nach Hause gefahren.
So auch dieses Mal, aber da war zum Ende der Konferenz dieser eine Workshop, der uns noch den ganzen Weg zum Flughafen und auch noch auf dem Rückflug nach Frankfurt beschäftigt hat – so sehr, dass ich auch fast vier Wochen danach, noch darüber nachdenke und darüber schreiben möchte. Weil dieser Workshop wichtige und zentrale Fragen aufgeworfen und eine intensive Diskussion ausgelöst, bin ich der Kollegin dankbar, dass sie das in dieser Form vorgestellt hat. Die Kontroversität, mit der die Kolleginnen und Kollegen die Herangehensweise diskutiert haben, hat mich überrascht, zeigt aber auch, dass es sich dabei um ein wichtiges Thema handelt, das explizit verhandelt werden sollte in einer Zeit, in der „Gamification“ zunehmend Einzug in den Unterricht hält. Wer sich übrigens für die Chancen und Potentiale von Gamification interessiert, der sei noch kurz auf den Online-Kurs Learning with creativity: Let the game begin! von School European Gateway hingewiesen, der Anfang dieser Woche gestartet ist und bei dem man sich noch kostenlos einschreiben und mitmachen kann.
In diesem Workshop in Danzig hat nun eine sehr geschätzte und reflektierte Kollegin eine selbst erstellte Unterrichtseinheit zum atlantischen „Dreieckshandel“ vorgestellt. Sie hatte dazu ein Spiel entwickelt, dass nach eigener Aussage bei ihren Schülerinnen und Schüler sehr gut angekommen war. Die Schülerinnen und Schüler wären besonders engagiert und motiviert gewesen. Der Workshop war, obwohl die letzte Veranstaltung am Sonntagnachmittag, gut besucht. Die teilnehmenden Kolleginnen und Kollegen wurden nach Tischen in Gruppen eingeteilt und sollten jeweils als Team spielen.
Worum ging es? Jedes Team sollte eine Handelskompanie spielen: Waren von Europa nach Afrika bringen, dort Sklaven einkaufen, diese nach Amerika verschiffen, dort verkaufen, neue Waren einkaufen und diese wieder nach Europa bringen. Das Spiel basierte auf einer PowerPoint sowie Excel-Tabellen für den Ein- und Verkauf der an den verschiedenen Punkte. Ziel war es im Spiel den meisten Profit zu machen.
Als bei der Vorstellung des Spiels klar wurde, dass es darum gehen würde, dass wir als Team in die Rolle von „Sklavenhändlern“ schlüpfen sollten, weigerten sich ebenso spontan wie vehement die niederländische und isländische Kollegin an meinem Tisch, daran teilzunehmen. Wir einigten uns auf eine Beobachterrolle und darauf, dem Workshop zu folgen, um zu schauen, wie die anderen Kolleginnen und Kollegen das Spiel spielen, die Workshopleiterin das Spiel moderieren und ob es einen Abbruch und/oder Reflexion des Spiel geben würde.
Die Geschichtslehrerinnen und -lehrer aus völlig unterschiedlichen Ländern und ganz unterschiedlichen Alters in den anderen Teams akzeptierten die Aufgabe und versuchten (in Teilen sehr engagiert) aus dem Sklavenhandel den meisten Profit zu schlagen: Dabei mussten sie Entscheidungen treffen, wie z.B. männliche oder weibliche, junge oder alte Menschen zu unterschiedlichen Preisen zu kaufen, was unterschiedliche Überlebenschancen und Verkaufsmöglichkeiten mit sich brachte. Die Spielphasen wurden jeweils unterbrochen durch Bild- und Erzählimpulse der Workshopleiterin mit Verweisen auf historische Hintergrundinformationen in Form von Bildquellen z.B. wie dieser.
Entgegen der Erwartungshaltung in unserer Bebachtergruppe erfolgte kein Abbruch und keine Unterbrechung durch die Spielenden, sondern vielmehr durchaus wahrnehmbar Freude über erfolgreiche Profitmaximierung bzw. Ärger über „schlechte Geschäfte“ und einen Rückstand im Ranking der Kompagnien. Im Gespräch mit der Workshopleiterin hatte ich im Vorfeld erfahren, dass es bisher im Unterricht auch nicht zu Unterbrechungen oder Kritik an der Herangehensweise gekommen war. Dies lässt sich durchaus mit der Autorität der Lehrerin bzw. des Lehrers im Klassenraum erklären, die je nach Land, Schule und Person unterschiedlich ausgeprägt ist, aber in jedem Fall eine besondere Verantwortung mit sich bringt.
Warum aber die Kolleginnen und Kollegen die Rollenübernahme nicht in Frage stellten, war mir zunächst nicht klar. War es die Höflichkeit oder Respekt gegenüber der Workshopleiterin und Kollegin? Bei einigen war auf jeden Fall eine emotionale Immersion zu beobachten, die sicher dazu führte, dass die Freude bzw. der Ärger über Gewinn- und Verlustbilanzen die Inhalte des „Spiels“ aus dem Blick geraten ließ.
Die anschließende Besprechung war entsprechend kontrovers. Die beiden Kolleginnen an meinem Tisch lehnten die Idee grundlegend ab: Der Spielvorschlag sei moralisch völlig inakzeptabel. In diesem Spiel würden Menschen auf den Status von Waren, Objekten, letztlich von Verkaufszahlen reduziert. Grundlage des Unterrichts müsste aber eine Erziehung zur Achtung der Menschenrechte sein. Dies sei in diesem Spiel auch mit nachgängiger Reflexion nicht geleistet. Es werde nur vermittelt, wie der „Dreieckshandel“ funktioniert habe, d.h. wie welche Güter gehandelt wurden, welchen Probleme und welche Profitchancen die Händler hatten. Dies sei auch anders lernbar, ohne selbst in die Rolle von Sklavenhändlern zu schlüpfen.
Diese Einschätzung war aber keinesweg einhellig. Ein Kollege argumentierte mit der emotionalen Involviertheit durch das Spiel, die zu einer stärkeren Auseinandersetzung mit dem Thema führen könne. Andere verwiesen darauf, dass sie sich zwar „mulmig“ gefühlt hätten beim Anblick der Bilder der Sklavenschiffe, und sich gefragt hätten, ob nicht ein besserer Transport möglich gewesen wäre. Stellten aber damit weder den Sklavenhandel an sich noch die Rollenübernahme im Spiel in Frage. Die Nachfrage, warum sie das Spiel nicht abgebrochen hätten, blieb in Teilen unbeantwortet bzw. teilweise wurde auf den „Spaß“ im und am Spiel verwiesen. Zudem habe die Abstrahierung von Sklaven auf Zahlentabellen es einfach gemacht, nicht über das eigene Rollenhandeln nachzudenken.
Es kann nun nicht darum gehen, Sklavenhandel auszublenden. Es stellt sich aber die Frage, wie ein solches Thema in Spielen integriert werden kann. Und die Debatte ist nicht neu: Zu Recht wurde zuletzt mit Blick auf Anno 1800, das neue Spiel der Anno-Reihe, kritisiert, dass dieses in einer Wirtschaftssimulation den Beitrag des Sklavenhandels zum europäischen Wohlstand und zur Industrialisierung in problematischer Weise außen vor lässt. Ob in einem Brettspiel wie Five Tribes „Sklaven“ durch „Fakire“ ersetzt werden müssen, darüber lässt sich sicher streiten, entspricht aber sicher weniger historischer Akturesse als dem Wunsch und Verkaufsinteresse, dass Spiele vor allem ein gutes Gefühl („Feel-Good-Programmatik“) vermitteln sollen.
Gerade weil es sich bei den Teilnehmenden im Workshop überaus engagierte und reflektierte Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrer handelte und selbst bei diesen das Spiel mehrheitlich nicht – wie von der Workshopleiterin intendiert (in der Workshopbeschreibung stand: „Participants will act as merchants,consulting with each others and making ‚life-or-death‘ decisions. This workshop lies not only the basis to teach colonialism, but also tospark discussions on human rights.“) – zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Thema oder Spiel führte, zeigt das Beispiel meines Erachtens Grenzen für den Einsatz von Gamification im Geschichtsunterricht auf. Die Schülerinnen und Schüler sind in der Regel nicht freiwillig Teilnehmende, sondern stehen in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Lehrerin bzw. zum Lehrer. Außerdem sind sie – zumindest in der Sek I sowie in Teilen der Sek II – noch nicht volljährig, und bedürfen daher eines besonderen Schutzes. Der „Arbeitsauftrag“, die Rolle von Sklavenhändlern zu übernehmen und deren Profite zu maximieren, ist für mich daher – da gehe ich mit den zwei Kolleginnen d’accord – vollkommen ungeeignet für eine Unterrichtssituation. Als Diskussionsanlass hingegen, was man wie in Spielen abbilden kann bzw. darf, lässt sich der Unterrichtsvorschlag – gerade weil er auch im Vergleich zu anderen analogen wie digitalen Spielen vergleichsweise einfach und überschaubar ist – sowohl für ältere SchülerInnen wie für Studierende sinnvoll nutzen.