Einen neuen Lehrplan entwickeln

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In Rheinland-Pfalz steht die Erstellung eines neuen Lehrplans für Geschichte in der Oberstufe an. Die Ausschreibung, sich für die Mitarbeit in der Kommission zu bewerben, endet diese Woche. Während es in der Geschichtsdidaktik eine breite Diskussion über die Entwicklung von Lehrplänen gibt, beobachte ich bei uns Lehrerinnen und Lehrer oft nur eine meist gehörige Portion Unmut über die Ergebnisse der Arbeit von Lehrplankommissionen. Nach den Diskussionen, die es in den letzten Jahren regelmäßig nach Veröffentlichung der Entwürfe neuer Geschichtslehrpläne gegeben hat (zuletzt in NRW), würde ich gerne die Gelegenheit nutzen, hier offen vorab mit allen Interessierten zu diskutieren, wie ein moderner, zeitgemäßer Lehrplan für die Sekundarstufe II aussehen sollte. [Disclaimer: Für die Mitarbeit in der Kommission habe ich mich nicht beworben.]

In RLP haben wir – aus meiner Sicht – den Vorteil, dass in Geschichte kein Zentralabitur gibt, so dass der Lehrplan viele Freiheiten in der Auswahl der Inhalte z.B. zur Berücksichtigung von Lokal- und Regionalgeschichte lassen kann. Eine der Schwierigkeiten bei der Lehrplanentwicklung ist hingegen, dass einerseits versucht werden sollte, Fachunterricht auf der Höhe der Zeit zu definieren, aber keinen kurzfristigen Moden zu folgen, da davon auszugehen ist, dass der Lehrplan die nächsten 10, 15, vielleicht 20 Jahre in Kraft bleiben wird.

Zum Einstieg in die Diskussion einige Aspekte, die meines Erachtens unbedingt bei der Entwicklung eines neuen Lehrplans für die Sekundarstufe II berücksichtigt werden sollten:

  • Die Binsenweisheit vorweg: Der Lehrplan sollte kompetenzorientiert sein – und wenn er das konsequent macht, die Menge der verpflichtenden Inhalte reduzieren. Die Kompetenzorientierung sollte sich dabei an den Modellen der Geschichtsdidaktik orientieren und nicht wie bei einigen Lehrplänen der letzten Jahre noch einmal ein eigenes Modell entwickeln und zur Grundlage des Lehrplans machen.
  • Der Lehrplan muss naheliegenderweise auf den Lehrplänen der Sek I aufbauen. Das heißt in RLP aber nicht nur die Berücksichtigung des Teillehrplans Geschichte für die Sekundarstufe I an Gymnasien, sondern auch auf den Lehrplan Gesellschaftslehre an der Integrierten Gesamtschulen, der gänzlich anders aufgebaut ist (siehe dazu hier) zu schauen. Jede Gesamtschule in Rheinland-Pfalz hat auch eine Oberstufe, die zum Abitur führt. Ingesamt sind rund ein Viertel der gymnasialen Oberstufen in RLP sind an Integrierten Gesamtschulen zu finden.
  • Ein aktueller Lehrplan sollte den aktuellen Stand der Wissenschaft widerspiegeln. Überholte Konzepte wie z.B. das „Lehnswesen“ oder der „Dreieckshandel“ dürfen nicht durch Festschreibung im Lehrplan perpetuiert werden.
  • Der in RLP für die Sek I festgeschriebene chronologische Durchgang muss in der Oberstufe nicht wiederholt werden, sondern es können anderen Prinzipien der Beschäftigung mit Geschichte als Gliederungsprinzipien zu Grunde gelegt werden, u.a. Längsschnitte, Themenfelder (Gender, Nationalismus usw.), offene Projektarbeit, in der die Lernenden selbst ihre Inhalte wählen usw.
  • Geschichte begegnet uns im Alltag seltener in Quellen, sondern vor allem in Form medialer Geschichts- und Erinnerungskultur. Diese sollten eine stärkere Berücksichtigung finden und ein wesentliches Kriterium für die Auswahl der Inhalte sein. Zudem sollte der Lehrplan ausreichend Freiheiten lassen, dass immer die Möglichkeit besteht, aktuelle gesellschaftliche Debatten nicht nur mal zwischendurch in einer Stunde „außer der Reihe“ anzureißen, sondern ausführlich in den Unterricht aufzunehmen.
  • Ein gelungener, zeitgemäßer Lehrplan sollte also meiner Meinung nach ebenso eine verbindliche Orientierung wie ausreichend Flexibilität für die Auswahl der Inhalte durch Schülerinnen und Schüler und Lehrinnen und Lehrer bieten.
  • Geschichte ist eines der zentralen Fächer für Medienbildung im schulischen Fächerkanon. Ein neuer Lehrplan sollte daher Medienbildung nicht als zusätzlichen Inhalt hinzufügen, sondern durchgängig mitdenken. Das umfasst u.a. die Berücksichtigung der Geschichte von Medien, die Medialität von Quellen und Darstellungen sowie wie auch digitale Werkzeuge für die Arbeit eines Historikers (z.B. kollaboratives Schreiben, Auswerten von „Big Data“) und in der Produktorientierung des Unterrichts, in dem nicht Klausuren geschrieben und Vorträge gehalten werden, sondern auch Social Media, Blogs, Podcasts, Videos Lerngegenstand und -produkt sind.
  • Geschichtsunterricht darf sich heute nicht mehr auf einen nationalen Bezugsrahmen beschränken, der um die „klassische Vorgeschichte“ der Antike ergänzt wird, sondern muss konsequent eine europäische und globalhistorische Perspektive einnehmen. Dies sollte nicht als Additum gedacht und angehängt (wie beispielsweise die „Frauengeschichte“ vor 20 Jahren), sondern strukturell integriert werden, in dem Prozesse der Globalisierung in den Blick genommen und exemplarisch vergleichende Fallstudien den Vergleich lokaler, regionaler und nationaler Entwicklungen ermöglichen.

Soweit meine spontanen, recht subjektiven und mit Sicherheit noch unvollständigen Gedanken zum Thema. Ich freue mich auf eine hoffentliche spannende und anregende Diskussion.

Vortragsreihe: Potenziale der Digitalisierung in Geschichtswissenschaft, Geschichtsdidaktik und Public History

Nächste Woche startet die Vortragsreihe „Clio im Cyberspace“ an der Universität Koblenz. Organisiert ist die Vortragsreihe in Zusammenarbeit des Instituts für Geschichte und des Zentrums für Lehrerbildung. Es freut mich sehr, dass die Uni Koblenz sich des Themas annimmt. Die Vorträge geben –  wie im Untertitel angekündigt – aus verschiedenen beruflichen Perspektiven Einblicke auf den Zusammenhang von „Geschichte“ und Digitalisierung. Auf Einladung von Herrn Dr. Grieshaber, der bei uns an der Schule auch mit Studierenden ein Projekt zur Globalgeschichte durchführt, werde ich zu Beginn der Sommerferien auch einen Vortrag halten, der sich mit der Frage nach Veränderungen durch digitale und digitalisierte Quellen im Geschichtsunterricht und in Schulbüchern auseinandersetzen wird. Mehr Informationen zur Vortragsreihe gibt es im Flyer, der hier als PDF heruntergeladen werden kann.

Ein Blick in die Textura-Werkstatt (Teil 3): jedes Wort wohl gewählt

Deutsche Lager? Wir ahnten, dass die Erarbeitung eines zweisprachigen Spiels zur deutsch-polnischen Verflechtungsgeschichte eine Herausforderung werden würde. In wievielen Details jedoch ein kleiner Sprachteufel sitzt, das war dann aber auch für mich überraschend.

Während im Deutschen selbstverständlich die Rede von „Konzentrationslagern“ ist, haben wir bei der Erarbeitung der Inhalte gelernt, dass der (oben verlinkte) Artikel der polnischen Wikipedia den Titel „deutsche Lager“ trägt. Im Spiel sind sie jetzt fachlich korrekt als „Obozy koncentracyjne“ übersetzt. Das Beispiel zeigt, wie wichtig die enge Zusammenarbeit mit der Übersetzerin und den Experten bei diesem Projekt war, sonst hätten wir leicht die Überzeugung gewinnen können, dass „deutsche Lager“ der etablierte Fachbegriff im Polnischen wäre – aber auch die Wikipedia bildet Geschichtspolitik in ihren Sprachversionen ab und ist deshalb kritisch zu hinterfragen.

Die Wikipedia ist für uns in diesem Projekt insofern besonders wichtig, weil dort tatsächlich alle Inhalte in beiden Sprachen vorliegen. Daher verlinken wir auf den Inhaltskarten des Spiel per QR-Code auf den Artikel der jeweiligen Sprachversion, um den Schülerinnen und Schüler eine schnelle Nachschlagmöglichkeit an die Hand zu geben oder als Ausgangspunkt um sich vertiefend zu informieren.

Angesichts der tatsächlich oft divergierenden Darstellung in den beiden Sprachversionen können in zweisprachigen Gruppen genau diese Unterschiede zum Lernanlass werden. In einsprachigen Gruppen ist (eingeschränkt, weil die Perspektive der anderen in Gruppe fehlt) auch möglich: Das Übersetzungstool deepl.com schafft keine perfekten, aber wirklich gut lesbare Textübersetzungen, die ausreichen, um eine abweichende Perspektive oder Wortwahl erkennen zu können und sie anschließend zu untersuchen bzw. im Unterricht zu thematisieren.

Ein anderes Beispiel ist das „Massaker von Jedwabne„. Jedes Set für jeweils ein Thema bzw. einen deutsch-polnischen Erinnerungsort umfasst (in der Regel) 15 Karten. Das heißt, es muss eine Auswahl getroffen. Gehört nun „Jedwabne“ unbedingt in das Thema „Holocaust“? Wir waren zunächst der Meinung, das aufnehmen zu müssen, um auch diesen Aspekt abzubilden und uns nicht dem Vorwurf einer vorauseilenden Selbstzensur angesichts der politischen und juristischen Entwicklung in Polen auszusetzen.

Am Ende haben wir Jedwabne doch nicht berücksichtigt. In enger Absprache mit den Experten der Polnischen Akademie der Wissenschaften und des Deutschen Polen-Instituts

sind wir übereingenommen, dass eine Einordnung des Geschehens von Jedwabne sehr voraussetzungsreich ist und dass das Spiel diese Einordnung (bei 15 Karten pro Großthema) nicht leisten kann. Ohne eine breite und notwendige Einordnung bestünde aber die Gefahr, mit einer einzelnen Karte zu „Jewabne“ in dem Set „Holocaust“ falsche Vorstellungen zu generieren. Es war dann letztlich eine Frage der (lang diskutierten und reiflichen) Abwägung, diesen Teilaspekt des Holocausts nicht zu berücksichtigen.

Die Erstellung der Inhalte für die Special Edition von Textura ist inzwischen abgeschlossen. Es läuft die Endredaktion der Texte, Christian, unser Illustrator rotiert bei der Fertigstellung der Bilder… Ende des Monats soll das Spiel im Druck sein und dann (hoffentlich) zum neuen Schuljahr, allerspätestens Anfang Oktober vorliegen. Toi, toi, toi!

Workshop: der 2. Weltkrieg in Polen

Vom 23. bis 26. Mai 2018 findet im schönen  Zamość im Rahmen der 37. Konferenz der Gemeinsamen deutsch-polnischen Schulbuchkommission ein Workshop für Lehrerinnen und Lehrer statt. Das Thema ist „Der Zweite Weltkrieg in der Geschichtsdidaktik in Polen und Deutschland. Wissen, Vermittlung und Darstellungsformen“. Es geht um die

„Herausforderungen, mit denen die schulische Wissensvermittlung zum Zweiten Weltkrieg einhergeht: den Alltag während der Okkupation, die Vertreibungen und die Zwangsumsiedlungen (beginnend mit dem Jahr 1939) sowie die didaktische Aufarbeitung von Themen wie Völkermord, Vernichtungs- und Zerstörungspolitik im Geschichtsunterricht. Im Rahmen der Konferenz wird die Umgebung von Zamość erkundet – unter anderem Biłgoraj und Szczebrzeszyn sowie das Umfeld des ehemaligen Vernichtungslagers in Bełżec – und nach lokalen, in diesem Raum verdichteten Spuren von Besatzungsgeschichte und Vernichtungspolitik gesucht.“

Für Lehrkräfte werden zudem Workshops zum Thema „Der Zweite Weltkrieg in Schulbüchern“ angeboten, die u.a. die neuen Zugänge des gemeinsamen deutsch-polnischen Geschichtsbuchs aufzeigen, dessen 4. Band, in dem es auch um den Zweiten Weltkrieg geht, gerade bearbeitet wird. Die ersten beiden Bände sind bereits erschienen.

Die gesamte Veranstaltung wird simultan übersetzt. Es sind noch Plätze frei. Die Kosten für Reise und Unterkunft werden übernommen.

Hier findet sich das Programm der Veranstaltung als PDF-Dokument.

Anmeldeschluss ist der 10. April Die Anmeldung kann über das hier verlinkte Dokument erfolgen.

The question is not the answer – probably

Gestern war ich auf einer u.a. von Euroclio organisierten Konferenz zu der Frage, welche Rolle der Geschichtsunterricht beim Erwerb von „media literacy“ spielen kann bzw. sollte.

Die Konferenz war gut, weil ein intensiver Austausch stattfand und ich viele Denkanregungen mit nach Hause nehmen kann. Zwei der Denkanstöße würde ich hier gerne noch recht roh und unverarbeitet aufgreifen…

Während der Tagung wurde mehrfach das etablierte Credo bemüht, dass Schule und der Geschichtsunterricht insbesondere, dazu befähigen soll, Darstellungen kritisch zu hinterfragen: „Schüler müssen lernen, Fragen zu stellen!“ – so war mehrfach zu hören. Dem ist grundsätzlich zuzustimmen. Ob sie es erst lernen müssen, oder wir in der Schule einfach mehr Fragen von Schülern zulassen müssen statt diese durch die „verpflichtenden Lehrplaninhalte“ zu unterdrücken, darüber ließe sich diskutieren… vielleicht verlernen Kinder und Jugendliche ja im Schulsystem auch eigene Fragen zu stellen…?

Nicht ganz zufällig habe ich auf der Fahrt zur Tagung das neue Buch von Philippe Wampfler „Schwimmen lernen im digitalen Chaos“ gelesen. Er weist zu Recht darauf hin, dass es sich um ein bereits länger existierendes, gesellschaftliches Phänomen handelt, dass gerade auch gut ausgebildete Menschen die Einschätzung von Experten, wie z.B. ihres Arztes, in Frage stellen… und dann durch eigene Recherchen auf alternative Lösungen treffen, die ihren (Vor-) Urteilen und Vorstellungen (stark verkürzt, was Philippe ausführlicher beschreibt: man findet die Antworten, die man sucht) entsprechen. Es sind dann diese „Alternativen“, die sie dann als vermeintlich „richtige“ Antworten übernehmen.

Das gilt in gleichem Maße für die Beschäftigung mit Geschichte. Wer Schülerinnen und Schüler fragt, was es heißt, eine Quelle oder Darstellung kritisch zu prüfen, wird von den meisten die Antwort erhalten: Man muss schauen, ob man die Aussage in anderen Quellen bestätigt findet. Es ist mit Hilfe des Webs mittlerweile einfach geworden, quasi für jede Aussage eine Bestätigung durch Wiedergabe auf einer anderen Seite zu finden. Wenn Schülern dann auf widersprüchliche Angaben treffen: 3 Internetseiten sagen „x“ sei richtig, 4 sagen „y“ – haben sie selten das fachliche oder methodische Rüstzeug, um den Widerspruch aufzulösen. Also entscheiden sie sich entweder für die Mehrheit oder eben für das, was ihrer (vorgefassten) Meinung am meisten entspricht und deshalb am „plausibelsten“ erscheint…

Die Folgen dieses methodischen Kurzschlusses lassen sich politisch und gesellschaftlich beobachten. Es kann nun nicht darum gehen, die Rückkehr zu einer Autoritätsgläubigkeit zu propagieren, wie sie in Deutschland in den 1950er noch verbreitet war… aber es könnte sein, dass nur das Fragen, Recherchieren und Vergleichen von Antworten zu lernen nicht ausreichend ist.

Aber wenn das nicht reicht, was dann?

Im Workshop des Kollegen Alex Cutajar aus Malta ging es darum, „media literacy“ anhand von Fernsehnachrichtensendungen als Quellen, wie sie mittlerweile millionenfach frei im Web verfügbar sind. So umfasst z.B. die Sammlung der britischen Pathé, die über YouTube frei zugänglich sind, allein 85.000 Videos! Das Potential für den Unterricht und die Notwendigkeit auch mehr Filme kritisch für das historische Lernen zu nutzen dürften unstrittig sein. Alex referierte in seinem Vortrag zwei Studien, wonach zum einen Lehrer beim Einsatz von Filmen weit weniger kritisch sind als beim Umgang mit geschriebenen Texten (ähnliche Befunden erbrachte auch u.a. die Studie von Britta Wehen) und dass Schüler Quellen grundsätzlich eine hohe Glaubwürdigkeit zuwiesen, da diese ja aus der Zeit selbst stammten und gerade bei Fotos und Filmen, können man ja direkt sehen, wie es gewesen sei… (auch dazu gibt es bereits einige, auch deutschsprachige Untersuchungen).

Nun stehen also mehr historische Filmquellen im Web zur Verfügung als ein einzelner Lehrer je in seinem Leben, selbst wenn er nichts anderes täte, sichten könnte. Und genau das ist das Problem. Dass der Geschichtsunterricht weiterhin weitgehend durch Texte und zum Teil Gemälde und Fotos geprägt, aber nicht durch Filme, hat auch damit zu tun, dass diese im „Leitmedium“ Schulbuch wie auch in anderen Publikationen bereits vielfach vorausgewählt und didaktisch aufbereitet sind. Es ist aufgrund der hohen Arbeitsbelastung für Lehrer eben kaum leistbar immer wieder so viel Material zu sichten, um am Ende ein für den Unterricht in einer spezifischen Lerngruppe die passende (Film-) Quelle zu finden, vielleicht, oder nach Stunden des Suchens, vielleicht eben auch nicht…

Wenn wir also wollen, dass im Geschichtsunterricht mehr mit Filmquellen gearbeitet wird, scheint es mir, das habe ich von der Tagung als (vielleicht banale) Erkenntnis mitgenommen, notwendig, dass analog zu den bisherigen Quellen- und Materialsammlungen auch online verfügbare Filme vorausgewählt und über eine Plattform oder sonstige Publikationsform zur Verfügung gestellt werden, die schnell durchsuchbar ist. Das gilt in gleichem Maße für die Integration digitaler Spiele in den schulischen Fachunterricht. Neu ist das nicht und auch nicht vermessen: Kein Lehrer ging bislang in die Archive auf der Suche nach Quellen für seinen täglichen Unterricht… oder? Nur weil viele Quellen nun online verfügbar sind, wird der Aufwand der Auswahl ja kaum geringer.

Die ausgewählten Filme sollten kurz (max. 10-15 Minuten) sein und zudem am besten bereits mit didaktischen Anregungen versehen sein, die über eine inhaltlliche Zusammenfassung hinausgehen und die „media literacy“ der Lernenden fördert. Aktuell sehe ich Vergleichbares nicht, es wäre also ein Desiderat oder hat jemand hier Hinweise auch bestehende Sammlungen von Filmquellen für den Unterricht?

33 Ideen

Im Januar erscheint das Heft mit dem Titel „33 Ideen digitale Medien Geschichte“ im Auer-Verlag. Es bildet den Auftakt einer neuen Reihe des Verlags mit fachdidaktischem Schwerpunkt zum fachbezogenen Lernen mit, an, über und in digitalen Medien.

Nach dem gemeinsam mit Ulf Kerber herausgebenen Handbuch präsentiert das Heft Unterrichtsvorschläge als „hands on“ – d.h. jede Idee ist in einem vorgegebenen Raster Schritt für Schritt erklärt und kann sofort im Unterricht umgesetzt werden. Die technischen Voraussetzungen sind bewusst sehr niedrigschwellig gehalten.  Das Heft erklärt digitale Werkzeuge und Methoden zum Geschichtslernen für „Einsteiger“. Für fast alle Vorschläge benötigt man nur einen Computerraum mit Internetzugang, wie ihn tatsächlich jede weiterführende Schule hat. Wem der Ansatz des Praxishandbuchs noch zu „theorielastig“ war, findet hier überblicksartig zahlreiche Anregungen für die alltägliche Unterrichtspraxis.

Für mich war die Arbeit an dem Band in mehrfacher Hinsicht spannend:

  • Es sind durchweg Unterrichtsvorschläge, die ich in der Regel über die letzten 15 Jahre hinweg immer wieder eingesetzt, angepasst und verändert habe. Ganz aktuelle technologische Entwicklungen wird man daher in dem Heft nicht finden. Die Sammlung umfasst erprobte Lernszenarien basierend auf meinen Erfahrungen als Geschichtslehrer an mittlerweile drei verschiedenen Schulen. Das Schreiben war daher auch noch mal ein Gang durch meine ersten Jahre als Lehrer.
  • Angesichts der Verfügbarkeit neuer Technologien und ihrer Möglichkeiten, z.B. von Virtual Reality und digitaler Spiele, markiert das Heft für mich zugleich in gewisser Weise mit seiner überblicksartigen Bestandsaufnahme auch den Abschluss einer weiteren Phase im Prozess der Digitalisierung in Bezug auf Schule und Fachdidaktik.
  • Einige der Unterrichtsideen finden sich bereits hier im Blog oder an anderer Stelle publiziert. Das Heft stellt die meines Erachtens praktikabelsten und am einfachsten umzusetzenden Ideen an einem Ort zusammen. Gemeinsam mit dem Verlag habe ich ein doppelseitiges Raster erarbeitet, das allen dort vorgestellten Unterrichtsideen zugrundeliegt, diese schnell erschließt und vergleichbar macht: Der Leser kann Einsatzmöglichkeiten, Voraussetzungen, Vor- und Nachteile sofort erfassen und dann gezielt das Werkzeug und/oder die Methode auswählen, die für intendierten Ziele geeignet erscheinen.
  • Im Raster gibt es den Punkt „analoge Alternative“: Diesen Punkt für jede Idee auszuarbeiten, war eine echte Herausforderung und hat mir auch noch einmal geholfen, den Sinn und Nutzen digitaler Medien für den Fachunterricht besser definieren zu können. Die meisten Ideen sind tatsächlich auch analog umsetzbar. Digital gelingt die Umsetzung zumeist jedoch schlicht einfacher, schneller oder professioneller. Nur in wenigen Fällen, das betrifft nur ein oder zwei der Ideen im Band, ist eine analoge Umsetzung nicht möglich. Allerdings – und das war für mich eine wichtige Erkenntis – „ersetzen“ die digitalen Zugänge nicht einfach die analoge Umsetzung. In den meisten Fällen waren es erst die digitalen Medien, die zur Idee geführt haben, die also auch das Denken verändert und den neuen Ansatz ermöglicht haben, wenn auch – kurz drüber nachgedacht – dieser (oft nur mit Krücken) analog auch möglich wäre.

Die 33 Ideen sind in mehrere Kapitel unterteilt, so u.a.

  • Geschichte medienspezifisch darstellen
  • Quellen und Darstellungen suchen und ihre Zuverlässigkeit prüfen
  • Eigene Fragestellungen entwickeln.

Die gewählten Überschriften benennen den kompetenzbezogenen Hauptaspekt des methodischen Zugangs und bieten Anknüpfungspunkte zu den unterschiedlichen geschichtsdidaktischen Kompetenzmodellen. Was die Werkzeuge und Methoden angeht, sind die Beispiele möglichst breit gewählt. So finden sich Unterrichtsvorschläge u.a. zum kollaborativen Arbeiten mit Etherpads und Wikis, zu Data-Mining, zur Arbeit mit digitalen Karten und Zeitzeugenvideos im Internet, zu virtuellen Exkursionen, zu Text- und Bilderschließung mit digitalen Hilfsmitteln.

Weitere Informationen zum Heft finden sich auf den Seiten des Verlags, wo es auch vorbestellt werden kann. Ich würde mich freuen, wenn die Darstellung der Unterrichtsideen in dieser Form ein wenig dazu beitragen kann, Ängste und Vorurteile abzubauen, Mut zu machen und (neue) Möglichkeiten aufzuzeigen, und wenn dadurch einige Kolleginnen und Kollegen erreicht würden, gerade diejenigen, die nicht selbstverständlich auf Twitter und in Blogs unterwegs sind, und diese sich trauten, die einfachen und technisch wenig voraussetzungsreichen Unterrichtsideen aufzugreifen, auszuprobieren und so ihren Unterricht für Neues zu öffnen.

Spielerisch Geschichte erzählen – ein Spiel zur Förderung narrativer Kompetenz im Geschichtsunterricht

Über ein Jahr intensive Arbeit und Testen in verschiedenen Klassen und Kursen steckt hinter dem folgenden Unterrichtskonzept. Basierend auf einer Idee von Ronald Hild haben wir ein Spiel zur Förderung des Erzählens im Geschichtsunterricht entwickelt. Das Spiel haben wir „Textura“ getauft, weil beim Spielen ein dichtes Netz, eine Art Erzähl-Gewebe entsteht. Textura hat einen modularen Aufbau und ist in mehreren Varianten vielseitig einsetzbar sowohl zum Einstieg in ein neues Thema, zur Texterschließung wie auch zur Wiederholung und Übung am Ende einer Unterrichtseinheit. Das vollständige Konzept findet sich hier zum Download als PDF-Datei.

Beispielhaft stellen wir die Inhalts- und Verknüpfungskarten zum Thema „Herrschaft im Mittelalter“ zur Verfügung. Wer mag kann sich die Materialien runterladen und im Unterricht ausprobieren:

Die Verknüpfungen können einfach ausgedruckt, kopiert und ausgeschnitten werden. Die Inhaltskarten müssen einmal gefaltet und zusammengeklebt werden, so dass auf der Vorderseite der Begriff und ein Bild, auf der Rückseite die passenden Infos zu sehen sind.

Das Beispiel zeigt das Potential von Textura, zugleich aber auch die Grenzen der Arbeit mit gemeinfreien bzw. CC-lizensierten Materialien. Die ausgewählten Symbole und Bilder sind in Teilen nicht ideal. Einige würden wir anders gestalten – wenn wir könnten, aber dazu bräuchten wir die Zusammenarbeit mit einem Illustrator bzw. mit einem Verlag, um die Materialien nicht improvisieren zu müssen, sondern um sie optimal gestalten zu können.

Anleitungen als Kopiervorlage für die Schülerinnen und Schüler zu zwei Spielvarianten können gleichfalls heruntergeladen werden:

Trotz der genannten Einschränkungen hat das Spiel beim Einsatz im Geschichtsunterricht überzeugt. Die Schülerinnen und Schüler waren begeistert und auf Lehrerseite stärkt das Spiel die Diagnostik, weil an den Diskussionen im Spiel und den mündlichen Erzählungen mit Hilfe der Karten sehr schnell deutlich wird, welche Inhalte und Zusammenhänge noch nicht ganz oder gar nicht verstanden wurden.

Deshalb stellen wir das Konzept und die beispielhaften Materialien gerne zur Verfügung und würden uns über Rückmeldungen freuen, um das Konzept auf breiterer empirischer Grundlage weiterentwickeln zu können.

Zu einzelnen weiteren Epochen haben wir bereits Kartensätze ausgearbeitet, die wir auf Anfrage auch gerne weitergeben.

Digital literacy im Geschichtsunterricht? – Teil 3: historische digital literacy

Der folgende Text ist der dritte Teil einer überarbeiteten Fassung des Vortrags vom 4. Juli 2017. Die Folien der Präsentation finden sich hier.

Zudem ist die Vergangenheit nicht direkt erfahrbar, sondern nur über Quellen, also Medien, in Teilen rekonstruierbar. Historiker beschäftigen sich also permanent mit Medien und man könnte damit zu Recht sagen, dass  Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrer innerhalb der Schule Experten für den kritischen Umgang mit „Medien“ sind.

Dies auch so wahrzunehmen, wäre meines Erachtens eine wichtige Selbsterkenntnis: Angesichts der Bedeutung von „Medien“ in der Welt könnte dies zu einer Stärkung des Fachs innerhalb des schulischen Fächerkanons führen und dem in den letzten Jahren in einigen Ländern zu beobachtenden Trend zur Stundenreduktion und zum Zusammenlegen des Fachs in einem gesellschaftswissenschaftlichen Fächerverbund entgegenwirken.

Die oben beschriebene Interdependenz von fachlichen und überfachlichen Kenntnissen und Fähigkeiten ist nichts Neues und nichts digital Spezifisches, sie ist aber eben auch im selben Maß vorhanden, wenn mit digitalen Medien im Unterricht gelernt und gearbeitet wird.

Beispiel Bibliotheks- bzw. Internetrecherche und eigenständige Bewertung von Funden“: Es handelt sich dabei eigentlich um eine akademische Arbeitsweise, die die meisten über 30 Jahre mit Eintritt in die Universität erworben haben. Nun ist sie aber relevant für jeden, wenn auch in unterschiedlichem Umfang und Intensität. Für jede „Internetrecherche“ muss ein Nutzer über Suchstrategien und Bewertungskriterien verfügen, um die gesuchten Inhalte zu finden, die Fundstellen einordnen und in ihrer Zuverlässigkeit einschätzen zu können. Damit muss das Erlernen von der Recherche im Internet auch Gegenstand in der Schule werden.

Wenn also Schülerinnen und Schüler im Geschichtsunterricht zu einem historischen Thema eine Internetrecherche durchführen sollen, dann müssen sie vorab u.a. wie man einen Computer/Laptop bedient, einen Browser öffnet, was Suchmaschinen, wie man diese nutzt usw. Wenn sie einen Teil dieser Kenntnisse und Fertigkeiten nicht in den Geschichtsunterricht mitbringen, dann ist die Internetrecherche im Fachunterricht vielleicht der Ort, wo das lernen können, was ihnen fehlt.

Die Internetrecherche wie die Bedienung von PowerPoint oder Word hat schon in unterschiedlicher Weise Eingang in Schule gefunden, ob in Form eines schulischen Mediencurriculums oder über neue Fächer wie ITG oder ähnliches. Aber auch bei der Internetrecherche gibt es fachliche Aspekte, die speziell das Geschichtslernen. Dazu gehören u.a.:

  • spezielle Angebote (Internetseiten oder Bücher) als geeignete Ausgangs- oder Einstiegspunkte in eine Recherche sowie
  • Datenbanken, Quellensammlungen etc.

Auch findet sich also ein aufeinander bezogenes Verhältnis von fachlichen und überfachlichen Inhalten, Methoden und Kompetenzen. Das heißt: „digital literacy“ ist ebenso wie „literacy“ sowohl Voraussetzung wie auch Ergebnis des Fachunterrichts und lässt sich nicht von diesem trennen.

Auf dem Seminar des Europarats haben wir das beispielhaft für die Frage nach „Social Media im Geschichtsunterricht“ zusammengestellt:

Social Media in the History Classroom

Die Grafik zeigt die bereits erwähnte Interdependenz von fachlichen und überfachlichen Kenntnissen und Kompetenzen auf. Wer z.B. als Lernprodukt eine Geschichtsdarstellung in einem Blog oder auf Twitter veröffentlichen möchte, muss u.a. grundlegende Kenntnisse über die medienspezifische Eigenschaften, die technischen Vorraussetzungen und das Urheberrecht haben oder erwerben.

Wiederholt wurde in der Geschichtsdidaktik die Frage danach formuliert, was am Digitalen für das Geschichtslernen neu sei oder ob es sich nur um „alten Wein in neuen Schläuchen“ handele (so auch ein Beitragstitel von Markus Bernhardt und Christian Bunnenberg in: Kühberger 2015). Die obige Grafik beantwortet diese Frage beispielhaft für „Social Media“: Quantitativ neu sind die (potentielle oder z.T. auch reale) Reichweite von Darstellungen, die Möglichkeiten der Vernetzung mit anderen (Schüler aus Klassen in anderen Städten, Regionen, Ländern, mit anderen Lehrern, aber auch mit Fachexperten) über Social Media und die Menge der für die eigene Arbeit und das Lernen zur Verfügung stehenden Quellen und Darstellungen.

Es gibt meines Erachtens aber auch qualitative Veränderungen, die ich an zwei Beispielen aufzeigen möchte:

a) Die direkte Zusammenarbeit in einem internationalen Projekt mit einer oder mehreren Partnerklassen in Echtzeit – d.h. anders als zu Schneckenpostzeiten – ohne technisch bedingte zeitliche Verzögerungen und Pausen, ermöglicht neue Formen des Austausch, der Zusammenarbeit und Diskussion, z.B. durch eine Live-Videokonferenz einer Schülerdiskussion oder das kollaborative Arbeiten in international gemischten Kleingruppen an einem gemeinsamen Dokument oder einer gemeinsamen Präsentation.

b) Es gibt neue Formen der Geschichts- und Erinnerungskultur, die erst durch die Möglichkeiten der Digitalisierung entstanden sind und die für das Geschichtslernen sowohl als Analysegegenstand oder z.T. auch als Anregungen für eigene Lernprodukt dienen können. Genannt seien hier exemplarisch u.a. die digitale „I remember“-Wall von Yad Vashem auf Facebook, das Projekt „Stolpertweets“ auf Twitter, die Diskussion über „Yolocaust“ oder Zeitzeugen, die als Hologramme wieder „zum Leben erweckt“ werden.

Wenn damit auf der einen Seite die digital literacy, auf der anderen Seite die historical literacy steht, dann scheint es naheliegend nach der Schnittmenge von beiden Bereichen zu fragen. Die Anregung für das Vortragsthema und die Begriffsbildung der „Historischen Digital Literacy“ gehen auf Marko Demantowsky zurück, der dazu im Wintersemester mit Studierenden gearbeitet hat und die gemeinsam als Ergebnis einen Wikipedia-Artikel erarbeitet haben, der seit einigen Wochen auch öffentlich zugänglich ist. In diesem bleibt die „Historische Digital Literacy“ allerdings noch seltsam undefiniert. Deshalb hier ein Vorschlag für eine einfache, vorläufige Arbeitsdefinition:

Historische Digital Literacy“ bezeichnet fachspezifische Kenntnisse und Kompetenzen historischen Lernens und Arbeitens mit originär digitalen oder digitalisierten Quellen und Darstellungen.

historische digital literacy

Was nun aber im Kern fachspezifisch digitales Arbeiten ist, lässt sich bei näherem Hinsehen gar nicht so genau bestimmen.

Nimmt man ein Buch wie „Digitale Arbeitstechniken für die Geistes- und Kulturwissenschaften“ von Gasteiner und Haber (2010), das ja – wie ich mit Erschrecken festgestellt habe – auch schon 7 Jahre alt ist, zugrunde legt, dann findet tatsächlich viele Arbeitstechniken wie kollaboratives Schreiben, Internetrecherche, Bildersuche, Text Mining, digitale Editionstechniken, die auch in der Geschichtswissenschaft angewandt werden können, aber keineswegs fachspezifisch sind – die man als Teile einer (geistes-) wissenschaftlichen „digital literacy“ betrachten könnte.

Wobei hier auch eine Riesenlücke besteht. Betrachtet man die Entwicklung der digital humanities und zentrale Verfahren z.B. zum Umgang mit großen Datenmengen, die neue Erhebungs- und digital gestützte Auswertungsverfahren nutzen, dann ist – soweit ich das überblicke – noch kein Transfer, auch nicht in notwendigerweise reduzierter Form in den Geschichtsunterricht erfolgt. Wenn man davon ausgeht, dass neue fachliche Erkenntnis rund 30 Jahre brauchen, bis sie in den Schulgeschichtsbüchern ankommen, dann ist bei Aktualisierung von Arbeitstechniken der Bezugswissenschaft mit einer vergleichbaren Transferlücke zu rechnen.

Dabei dürfte vermutlich unstrittig sein, dass es wichtig ist in Schulen solche („neue“) Verfahren aufzugreifen, die ein grundlegendes Verständnis für eine Form der Welterschließung in der digitalen Welt aufzeigen. (Für die Schule wäre hier z.B. die Arbeit mit dem Google Ngram Viewer eine einfache Möglichkeit, erste Grundlagen der Nutzung großer Datenmengen für das historische Arbeiten beispielhaft kennenzulernen).

Vergleichbar den eben genannten wissenschaftlichen Arbeitstechniken sieht es bei den Veröffentlichungen zu „digitalen Medien“ im Geschichtsunterricht aus: Auch hier geht es um Internetrecherche, kollaboratives Schreiben, das Veröffentlichen von Texten in Blogs, das Nutzen von Smartphones zur Erkundung historischer Orte oder die Arbeit mit Software wie PowerPoint oder Prezi („im Geschichtsunterricht“) für Präsentationen, um nur wenige Beispiele zu nennen. Der Verbreitungsgrad in der Praxis des Unterrichts dürfte – trotz mittlerweile zahlreicher Veröffentlichungen – allerdings weiterhin recht gering sein.

Digital literacy im Geschichtsunterricht? – Teil 2: historical literacy

Der folgende Text ist der zweite Teil einer überarbeiteten Fassung des Vortrags vom 4. Juli 2017. Die Folien der Präsentation finden sich hier.

Wenig verwundern dürfte nach dem bereits Gesagten, dass es im englischsprachigen Raum auch eine „historical literacy“ gibt. Historical Literacy bezeichnet fachspezifische Methoden und Zugangsweisen des Geschichtsunterrichts, die einen Beitrag zur Orientierung des Individuums in der Welt bieten.

Der kanadische Geschichtsdidaktiker Stéphane Lévesque hat es in einem Beitragstitel1 auf den Punkt gebracht:

„Learning to THINK like Historians“

Es geht nicht darum, in der Schule Historiker auszubilden, sondern aus dem Fach heraus historisches Denken als eine Art historischer Grundbildung und damit Teil der Allgemeinbildung zu erwerben und einzuüben.

Was damit gemeint ist, lässt sich am besten an einem konkreten Beispiel aufzeigen: Das kanadische Historical Thinking-Projekt basiert auf der Idee einer „historischen Grundbildung“ (nicht „Kompetenz“, auch wenn es Überschneidungen mit den deutschsprachigen Kompetenzmodellen gibt, siehe z.B. Trautwein et al. 2017, 40ff. – insbesondere ist hier das FUER-Modell zu nennen, das von einer grundsätzlichen Orientierungsfunktion historischen Denkens ausgeht).

In dem Projekt wurden sechs second-order Konzepte als wesentliche Grundlage von historischem Denken identifiziert:

  1. Establish historical significance
  2. Use primary source evidence

  3. Identify continuity and change

  4. Analyze cause and consequence

  5. Take historical perspectives, and

  6. Understand the ethical dimension of historical interpretations.

Auf der Webseite des Projekts wird auf die Alltagsbedeutung dieser Konzepte verwiesen:

Historically literate citizens can assess the legitimacy of claims that there was no Holocaust, that slavery wasn’t so bad for African-Americans, that aboriginal rights have a historical basis, and that the Russian experience in Afghanistan serves as a warning to the Canadian mission there. They have thoughtful ways to tackle these debates. They can interrogate historical sources. They know that a historical film can look „realistic“ without being accurate. They understand the value of a footnote.“2

Wenn man sich die Konzepte und genannten Beispiele anschaut, wird man schnell erkennen, dass im Geschichtsunterricht in den deutschsprachigen Ländern eventuell mit einem etwas anderen Schwerpunkt, aber im Kern genau diese Konzepte seit einigen Jahrzehnten erlernt und angewendet werden (den gap zwischen Theorie und Praxis mal einfacherweise außer Acht lassend).

Interessant finde ich aber einen anderen Punkt: Wenn man sich die wenigen Beispiele für die Anwendung dieser Konzepte anschaut und speziell den letzten Punkt in den Blick nimmt: die Bedeutung einer Fußnote?

Ist das Aufgabe des Geschichtsunterrichts?

Wenn man auf begrenztem Raum nur Platz für 6 Beispiele hat, welche wählt man aus? Vermutlich die aus Sicht der Autoren wichtigsten. Es ist also davon auszugehen, dass das zusätzliche Beispiel am Ende mit Bedacht gewählt ist. Es stellt sich allerdings die Frage, ob auch dieser eigentlich nicht spezifisch historische Bereich Teil des Kerns von schulischen Geschichtsunterricht sein kann.

Das mag mit Blick auf den Titel vielleicht etwas abwegig erscheinen, aber berührt meines Erachtens eine zentrale Frage, wenn es um „Digitales“ in der  Fachdisziplin wie auch im Fachunterricht geht.

In einer Reihe von Workshops des Europarat werden gerade Guidelines für den Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert erarbeitet (zum Projekt siehe hier). Auf dem Workshop in Utrecht vor zwei Wochen tauchten in der Arbeitsgruppe, in der es um Internet, Social Media usw. ging, folgende Fragen auf: Kann das / darf das / muss das Thema des Geschichtsunterrichts sein? Was ist wirklich fachspezifisch, was nicht? Welche Voraussetzungen müssen Schülerinnen und Schüler mitbringen, um digital fachspezifisch zu arbeiten? Und wo sollen sie diese Voraussetzungen erwerben? Haben wir Zeit für – und da sind wir beim Titel des Vortrags – allgemeine „digital literacy“ im Geschichtsunterricht? Und falls ja: wieviel Zeit haben wir dafür bei durchschnittlich 2 Schulstunden Geschichtsunterricht pro Woche?

Um diese Fragen zu beantworten, ist es vielleicht ganz hilfreich einen Blick auf die gegenwärtige Praxis des Geschichtsunterrichts zu werfen. Drei kurze Beispiele – die erstmal nichts mit Digitalem zu tun haben –  sollen helfen die Verbindung von überfachlichen und fachspezifischen Kenntnissen und Fähigkeiten aufzuzeigen:

  1. Texte lesen: Trotz zunehmender Bedeutung von Bildern und Karten ist der Geschichtsunterricht immer noch weitgehend textbasiert. Schriftliche Quellen und Darstellungen machen den Kern des Unterrichts aus. Und ganz banal: Dafür muss man lesen können. Wer nicht oder nicht gut lesen kann, wird Probleme im Geschichtsunterricht haben. Das ist die allgemeine Seite – man könnte daneben auch den Erwerb und das Einüben von Lesetechniken wie Scanning und Skimming, Markieren und Unterstreichen usw. nennen. Neben der allgemeinen Lesekompetenz gibt es aber auch ein fachspezifisches Vokabular sowohl zeitlich historisch bei der Quellenlektüre wie auch fachlich in Darstellungen, ohne dessen Kenntnis sich auch bei sonst guter Lesekompetenz ein Text im Geschichtsunterricht nicht erschließt.
  2. Quellenkritik: Als zentrale Arbeitsmethode der Fachwissenschaft wie des Unterrichts ist es nicht notwendig, Quellenkritik vorzustellen. Sie ist seit Jahrzehnten in Deutschland selbstverständlicher, zentraler Bestandteil von Geschichtslernen in der Schule (wenn auch in der Regel in reduzierter Form: gekürzte, vereinfachte Quellen im Schulbuch oder auf Kopie, denen die wesentlichen Informationen bereits beigegeben sind). Zugleich lässt sich diese Methode grundsätzlich aber auch auf alle medialen Repräsentationen übertragen und anwenden: Wenn man sich die gängigen Vorschläge zur Überprüfung der Zuverlässigkeit einer Internetseite anschaut, dann ist das im Kern die historische Quellenkritik angewendet auf einen anderen Gegenstand.
  3. Textgattungen: Sowohl bei der Analyse von Texten wie bei der eigenen Produktion muss man wissen, welche Textsorten es gibt, wie sich diese unterscheiden und für welche Zweck welche Textgattung besser geeignet ist als eine andere. Das ist etwas, was zunächst einmal nicht im Geschichtsunterricht vermittelt, aber notwendigerweise im Fachunterricht immer abgerufen wird. Zugleich muss man aber auch spezifische (historische) Textsorten erkennen und unterscheiden können. Das betrifft sowohl historische Quellen wie Geschichtsdarstellungen.

Die Beispiele zeigen, dass auch zunächst noch ohne alles „Digitale“ im Geschichtsunterricht allgemeine und fachspezifische Kenntnisse und Fähigkeiten immer interdependent sind. Das Nachdenken über die Rolle digitaler Medien führt nur dazu, über Medien im Fachunterricht grundsätzlich nachzudenken und deren Bedeutung und Relation aus heutiger Perspektive zu bestimmen.

1 http://www.virtualhistorian.ca/system/files/Levesque On Historical Literacy Winter 2010_0.pdf

Digital literacy im Geschichtsunterricht? – Teil 1: der literacy-Begriff

Der folgende Text ist der erste Teil einer überarbeiteten Fassung des Vortrags vom 4. Juli 2017. Die Folien der Präsentation finden sich hier.

Literacy meint im Englischen zunächst einmal die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können; also das, was man im Deutschen auch mit Alphabetisierung oder Literalität bezeichnet.

Insbesondere im Gefolge der PISA-Studien seit dem Jahr 2000 finde sich eine Popularisierung und Ausweitung des Literacy-Begriffs auch im deutschsprachigen Raum. Grundlage der Pisa-Studien sind ist der Dreiklang von „Reading Literacy“, „Mathematical Literacy“, „Scientific Literacy“. Ins Deutsche werden diese Begriffe unterschiedlich übersetzt, zum Teil als „Kompetenz“, „Allgemeinbildung“, Grundbildung“ oder auch nur „Bildung“, wie zum Beispiel die „Mathematische Bildung“. Da der deutsche „Bildungsbegriff“ aber umfassender ist, wird „literacy“ zum Teil auch nicht übersetzt, um die Ansätze und dahinter stehenden Konzepte voneinander abzugrenzen.

Gemeinsam ist dem Literacy-Ansatz der Pisa-Studien, dass es um überfachliche Kenntnisse und Fähigkeiten geht, die für das Alltags- und Berufsleben relevant sind. Es geht bei „Literacy“ also um Schlüsselqualifikationen, die deswegen als zentral angesehen werden, weil ihre Anwendung einen praktischen Nutzen bringt.

In der Folge hat sich eine Reihe von neuen Literacy-Konzepten herausgebildet bzw. auch schon ältere Konzepte wurden stärker rezipiert. Beispielhaft seien hier genannt:

  • financial literacy → finanzielle Allgemeinbildung bzw. Verbrauchergrundbildung (je nach Perspektive und Schwerpunkt)
  • information literacy → Informationskompetenz → das selbstständige Finden und der souveräne Umgang mit Informationen (als Schlüsselqualifikation der Wissens- bzw. Informationsgesellschaft)
  • health literacy: im Deutschen in der Regel mit „Gesundheitskompetenz“ übersetzt: Wissen und Fähigkeiten Informationen zum Thema „Gesundheit“ zu finden, zu verstehen und beurteilen zu können und im Alltag Entscheidungen zu treffen, die sich positiv auf die Gesundheit auswirken
  • usw.

Diese literacy-Konzepte sind Jeweils in der Regel verbunden mit Forderungen von Lobbygruppen nach einer entsprechenden „XYZ literacy education“ in den Schulen.

Zusammenfassend und etwas vereinfacht formuliert, geht es bei aktuellen „literacy“-Konzepten immer um das kompetente Handeln in einem bestimmten gesellschaftlichen Feld. Daran zeigt sich ein Begriffswandel, der sich auch in den unterschiedlichen deutschen Übersetzungen widerspiegelt: von Elementen einer allgemeinen Grundbildung hin zu spezifischen Kompetenzen.

Und so ist es wenig verwunderlich, dass sich – durchaus sowohl mit Überschneidung wie in Abgrenzung zur bereits genannten „information literacy“ – auch eine „digital literacy“ findet, wie sie bereits im Titel dieses Beitrags angekündigt ist.

Laut Wikipedia meint „Digital literacy“:

the set of competencies required for full participation in a knowledge society. It includes knowledge, skills, and behaviors involving the effective use of digital devices such as smartphones, tablets, laptops and desktop PCs for purposes of communication, expression, collaboration and advocacy.“

Digital literacy wird also verstanden als eine Art übergeordnete digitale Grundbildung, die u.a. Medienkompetenz und Informationskompetenz umfasst und dem Individuum selbstbestimmtes Handeln in einer digital geprägten Lebens- und Berufswelt ermöglichen soll.

Abgrenzen lässt sich die digital literacy zum einen von dem bereits älteren Konzept der „computer literacy“, der sich aber auf den Umgang mit bestimmten Geräten, also Personal Computern, bezog und durch die umfassendere digital literacy abgelöst wurde.

Zum anderen gab es bereits seit den 1980ern Jahren eine Debatte über „media literacy“ im englischsprachigen Raum, die alle „Medien“ umfassend, breiter angelegt ist, als die nur auf Digitales fokussierende „digital literacy“.

Im Deutschen haben sich beide Begrifflichkeiten nicht durchgesetzt, sondern im Medienbereich gab es eine davon weitgehend unabhängige Entwicklung1, die wesentlich um die Begriffe „Medienkompetenz“ und „Medienbildung“ kreiste. Wobei – das sei vorweg gesagt – die verschiedenen nicht trennscharf sind, wohl aber unterschiedliche Perspektiven und Schwerpunktsetzungen erkennen lassen.

Medienkompetenz2 wird meist als normativer Begriff verwendet, der eine wünschenswerte Zielsetzung vorgibt. Dabei lassen sich im deutschsprachigen Raum über 100 verschiedene „Medienkompetenz“-Modelle finden. Die meisten basieren auf dem Ansatz von Dieter Baacke (zuerst 1980). Sein Modell umfasste erstmals die Bereiche

  • Medienkritik,

  • Medienkunde,

  • Mediennutzung und

  • Mediengestaltung,

Diese vier Bereiche bilden in unterschiedlicher Form und Ausprägung die zentralen Bezugspunkte der Medienkompetenzdebatte. Zwar wird Medienbildung in der Alltagssprache oft synonym verwendet, wurde aber von Medienpädagogen in den letzten Jahren zunehmend stärker zur Abgrenzung und Profilierung genutzt, in dem Maße in dem „Medienkompetenz“ in der Öffentlichkeit auf eine Bedienung von technischen Geräten reduziert wurde. Insbesondere die 1990er Jahren bildeten eine Boomphase von E-Learning und andere computer- und internetbasierten Lehr-Lernszenarien, die wesentlich auf die Vermittlung einer „Bedienkompetenz“, im Sinne einer technologisch verstandenen „Medienkompetenz“ ausgerichtet waren.

Medienbildung hingegen beginnt dort,

„wo es nicht primär um den Erwerb technischer Fertigkeiten geht (Moser 2004, 65), und greift auf den Bildungs- und Lebensweltbegriff zurück und schafft Anschluss an konstruktivistische Bildungskompetenzen (ebd. 69). Moser versteht Medienbildung als Querschnittsaufgabe aller Fächer und geht davon aus, dass die mediale Kommunikation Teil jeder Bildungstheorie des 21. Jahrhunderts darstellen muss, da der Strukturwandel zur digitalen Gesellschaft nicht ohne Medien auskommt und deshalb Medienbildung für eine Weiterentwicklung der klassischen Bildungstheorien unverzichtbar ist.“ 3

Nach Tulodziecki (2011) lassen sich somit Medienkompetenz und Medienbildung als komplementäres Begriffspaar verstehen, von denen die Medienkompetenz als Zielsetzung und die Medienbildung im Sinne der Offenheit des Bildungsbegriffs als Prozess verstanden wird und die somit ein Spannungsfeld konstituieren.

Digital literacy“ ist also teildeckungsgleich, aber keineswegs synonym weder zu Medienkompetenz noch zu Medienbildung, sondern fokussiert speziell die Befähigung des Individuums zum souveränen Handeln in einer digital geprägten Welt, für das eine Reihe von Kenntnissen, Fähigkeiten und Einstellungen notwendig sind. Dazu gehören u.a. auf inhaltlicher Ebene das Auffinden, Verarbeiten, Kommunizieren und Publizieren von Informationen, die eine „Bedienkompetenz“ der Geräte und Software voraussetzen ebenso wie critical thinking (im Sinne von an der Wissenschaft orientiertem Denken), Bereitschaft zu kollaborativem Arbeiten und dem Teilen und Veröffentlichen von Arbeitsergebnissen.4

1 Siehe Grafe: ‚media literacy‘ 2011 http://www.medienpaed.com/article/viewFile/395/397

2 Tulodziecki, Zur Entstehung 2011.

3 Zitat Diss Kerber 2016.