Gamification gone wrong

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Dies ist kein einfacher Beitrag. Vor fast schon einem Monat war ich für ein paar Tage in Danzig auf der Jahreskonferenz von euroclio. Das Programm der Konferenz lässt sich online noch einsehen. Wer noch nie bei einer Veranstaltung von euroclio war, dem sei dies an dieser Stelle vorab sehr empfohlen. Euroclio macht sehr gute und sehr wichtige Arbeit. Bei den Fortbildungsanstaltungen, Konferenzen und den Projekten trifft man motivierte und motivierende Kolleginnen und Kollegen aus ganz Europa und ich bin bisher immer mit tollen Eindrücken und Anregungen für die eigene Unterrichtspraxis nach Hause gefahren.

So auch dieses Mal, aber da war zum Ende der Konferenz dieser eine Workshop, der uns noch den ganzen Weg zum Flughafen und auch noch auf dem Rückflug nach Frankfurt beschäftigt hat – so sehr, dass ich auch fast vier Wochen danach, noch darüber nachdenke und darüber schreiben möchte. Weil dieser Workshop wichtige und zentrale Fragen aufgeworfen und eine intensive Diskussion ausgelöst, bin ich der Kollegin dankbar, dass sie das in dieser Form vorgestellt hat. Die Kontroversität, mit der die Kolleginnen und Kollegen die Herangehensweise diskutiert haben, hat mich überrascht, zeigt aber auch, dass es sich dabei um ein wichtiges Thema handelt, das explizit verhandelt werden sollte in einer Zeit, in der „Gamification“ zunehmend Einzug in den Unterricht hält. Wer sich übrigens für die Chancen und Potentiale von Gamification interessiert, der sei noch kurz auf den Online-Kurs Learning with creativity: Let the game begin! von School European Gateway hingewiesen, der Anfang dieser Woche gestartet ist und bei dem man sich noch kostenlos einschreiben und mitmachen kann.

In diesem Workshop in Danzig hat nun eine sehr geschätzte und reflektierte Kollegin eine selbst erstellte Unterrichtseinheit zum atlantischen „Dreieckshandel“ vorgestellt. Sie hatte dazu ein Spiel entwickelt, dass nach eigener Aussage bei ihren Schülerinnen und Schüler sehr gut angekommen war. Die Schülerinnen und Schüler wären besonders engagiert und motiviert gewesen. Der Workshop war, obwohl die letzte Veranstaltung am Sonntagnachmittag, gut besucht. Die teilnehmenden Kolleginnen und Kollegen wurden nach Tischen in Gruppen eingeteilt und sollten jeweils als Team spielen.

Worum ging es? Jedes Team sollte eine Handelskompanie spielen: Waren von Europa nach Afrika bringen, dort Sklaven einkaufen, diese nach Amerika verschiffen, dort verkaufen, neue Waren einkaufen und diese wieder nach Europa bringen. Das Spiel basierte auf einer PowerPoint sowie Excel-Tabellen für den Ein- und Verkauf der an den verschiedenen Punkte. Ziel war es im Spiel den meisten Profit zu machen.

Als bei der Vorstellung des Spiels klar wurde, dass es darum gehen würde, dass wir als Team in die Rolle von „Sklavenhändlern“ schlüpfen sollten, weigerten sich ebenso spontan wie vehement die niederländische und isländische Kollegin an meinem Tisch, daran teilzunehmen. Wir einigten uns auf eine Beobachterrolle und darauf, dem Workshop zu folgen, um zu schauen, wie die anderen Kolleginnen und Kollegen das Spiel spielen, die Workshopleiterin das Spiel moderieren und ob es einen Abbruch und/oder Reflexion des Spiel geben würde.

Die Geschichtslehrerinnen und -lehrer aus völlig unterschiedlichen Ländern und ganz unterschiedlichen Alters in den anderen Teams akzeptierten die Aufgabe und versuchten (in Teilen sehr engagiert) aus dem Sklavenhandel den meisten Profit zu schlagen: Dabei mussten sie Entscheidungen treffen, wie z.B. männliche oder weibliche, junge oder alte Menschen zu unterschiedlichen Preisen zu kaufen, was unterschiedliche Überlebenschancen und Verkaufsmöglichkeiten mit sich brachte. Die Spielphasen wurden jeweils unterbrochen durch Bild- und Erzählimpulse der Workshopleiterin mit Verweisen auf historische Hintergrundinformationen in Form von Bildquellen z.B. wie dieser.

Entgegen der Erwartungshaltung in unserer Bebachtergruppe erfolgte kein Abbruch und keine Unterbrechung durch die Spielenden, sondern vielmehr durchaus wahrnehmbar Freude über erfolgreiche Profitmaximierung bzw. Ärger über „schlechte Geschäfte“ und einen Rückstand im Ranking der Kompagnien. Im Gespräch mit der Workshopleiterin hatte ich im Vorfeld erfahren, dass es bisher im Unterricht auch nicht zu Unterbrechungen oder Kritik an der Herangehensweise gekommen war. Dies lässt sich durchaus mit der Autorität der Lehrerin bzw. des Lehrers im Klassenraum erklären, die je nach Land, Schule und Person unterschiedlich ausgeprägt ist, aber in jedem Fall eine besondere Verantwortung mit sich bringt.

Warum aber die Kolleginnen und Kollegen die Rollenübernahme nicht in Frage stellten, war mir zunächst nicht klar. War es die Höflichkeit oder Respekt gegenüber der Workshopleiterin und Kollegin? Bei einigen war auf jeden Fall eine emotionale Immersion zu beobachten, die sicher dazu führte, dass die Freude bzw. der Ärger über Gewinn- und Verlustbilanzen die Inhalte des „Spiels“ aus dem Blick geraten ließ.

Die anschließende Besprechung war entsprechend kontrovers. Die beiden Kolleginnen an meinem Tisch lehnten die Idee grundlegend ab: Der Spielvorschlag sei moralisch völlig inakzeptabel. In diesem Spiel würden Menschen auf den Status von Waren, Objekten, letztlich von Verkaufszahlen reduziert. Grundlage des Unterrichts müsste aber eine Erziehung zur Achtung der Menschenrechte sein. Dies sei in diesem Spiel auch mit nachgängiger Reflexion nicht geleistet. Es werde nur vermittelt, wie der „Dreieckshandel“ funktioniert habe, d.h. wie welche Güter gehandelt wurden, welchen Probleme und welche Profitchancen die Händler hatten. Dies sei auch anders lernbar, ohne selbst in die Rolle von Sklavenhändlern zu schlüpfen.

Diese Einschätzung war aber keinesweg einhellig. Ein Kollege argumentierte mit der emotionalen Involviertheit durch das Spiel, die zu einer stärkeren Auseinandersetzung mit dem Thema führen könne. Andere verwiesen darauf, dass sie sich zwar „mulmig“ gefühlt hätten beim Anblick der Bilder der Sklavenschiffe, und sich gefragt hätten, ob nicht ein besserer Transport möglich gewesen wäre. Stellten aber damit weder den Sklavenhandel an sich noch die Rollenübernahme im Spiel in Frage. Die Nachfrage, warum sie das Spiel nicht abgebrochen hätten, blieb in Teilen unbeantwortet bzw. teilweise wurde auf den „Spaß“ im und am Spiel verwiesen. Zudem habe die Abstrahierung von Sklaven auf Zahlentabellen es einfach gemacht, nicht über das eigene Rollenhandeln nachzudenken.

Es kann nun nicht darum gehen, Sklavenhandel auszublenden. Es stellt sich aber die Frage, wie ein solches Thema in Spielen integriert werden kann. Und die Debatte ist nicht neu: Zu Recht wurde zuletzt mit Blick auf Anno 1800, das neue Spiel der Anno-Reihe, kritisiert, dass dieses in einer Wirtschaftssimulation den Beitrag des Sklavenhandels zum europäischen Wohlstand und zur Industrialisierung in problematischer Weise außen vor lässt. Ob in einem Brettspiel wie Five Tribes „Sklaven“ durch „Fakire“ ersetzt werden müssen, darüber lässt sich sicher streiten, entspricht aber sicher weniger historischer Akturesse als dem Wunsch und Verkaufsinteresse, dass Spiele vor allem ein gutes Gefühl („Feel-Good-Programmatik“) vermitteln sollen.

Gerade weil es sich bei den Teilnehmenden im Workshop überaus engagierte und reflektierte Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrer handelte und selbst bei diesen das Spiel mehrheitlich nicht – wie von der Workshopleiterin intendiert (in der Workshopbeschreibung stand: „Participants will act as merchants,consulting with each others and making ‚life-or-death‘ decisions. This workshop lies not only the basis to teach colonialism, but also tospark discussions on human rights.“) – zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Thema oder Spiel führte, zeigt das Beispiel meines Erachtens Grenzen für den Einsatz von Gamification im Geschichtsunterricht auf. Die Schülerinnen und Schüler sind in der Regel nicht freiwillig Teilnehmende, sondern stehen in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Lehrerin bzw. zum Lehrer. Außerdem sind sie – zumindest in der Sek I sowie in Teilen der Sek II – noch nicht volljährig, und bedürfen daher eines besonderen Schutzes. Der „Arbeitsauftrag“, die Rolle von Sklavenhändlern zu übernehmen und deren Profite zu maximieren, ist für mich daher – da gehe ich mit den zwei Kolleginnen d’accord – vollkommen ungeeignet für eine Unterrichtssituation. Als Diskussionsanlass hingegen, was man wie in Spielen abbilden kann bzw. darf, lässt sich der Unterrichtsvorschlag – gerade weil er auch im Vergleich zu anderen analogen wie digitalen Spielen vergleichsweise einfach und überschaubar ist – sowohl für ältere SchülerInnen wie für Studierende sinnvoll nutzen.

Einer Karikatur auf der Spur 2: über die Online-Suche zur Entschlüsselung unbekannter Bilder

Der Wahre Jakob, 20.2.1906, Karikatur: Aus unseren Kolonien.

Karikatur: Aus unseren Kolonien, aus: Der Wahre Jacob, 20.2.1906 .

Eine Karikatur. Noch eine. Ein spannendes Thema. Mit Begeisterung entdecke ich, welche großartigen Bestände bereits online verfügbar sind. Neu entdeckt habe ich den „Wahren Jacob“, der gleichfalls von der Universitätsbibliothek Heidelberg digitalisiert wurde. Schülerinnen aus dem Leistungskurs haben für ihre Stunde im Rahmen einer LdL-Reihe, diese Karikatur gefunden, konnten aber die beiden abgebildeten Männer nicht identifizieren und hatten deshalb um Unterstützung gebeten.

Das war der Startschuss einer etwas umfangreicheren Suchaktion, die ich mit diesem Beitrag dokumentieren möchte. Was wir hier in wenigen Stunden am Computer recherchiert haben, hätte vor zehn Jahren noch Tage mit ausführlichen Bibliotheksbesuchen benötigt. Bevor ich die Rechercheschritte beschreibe, vorab noch zwei Bemerkungen:

Zum einen der Hinweis, wie spannend Lernen durch Lehren (LdL) sein kann, wenn Schülerinnen und Schüler selbst Material online für ihre Stunden zusammenstellen. Das fällt nicht selten raus aus dem Kanon der üblicherweise genutzten und oft reproduzierten Quellen und Darstellungen und hat mich um einige tolle und spannende Funde bereichert, die ich bislang nicht kannte und sicher bei anderer Gelegenheit auch selbst im Unterricht mal einsetzen werde.

Zum anderen: ganz herzlichen Dank an @frandevol und @kaiserkath, die gestern auf meine Bitte via Twitter um Hilfe bei der Suche reagiert und fieberhaft mit gesucht haben. Das war super und sehr hilfreich!

Ausgangspunkt war ein qualitativ eher schlechter Scan der Karikatur aus einem Buch, der sich auch in der englischsprachigen Wikipedia findet. Die Datierung ist mit 1906 noch recht ungenau. Die Bildersuche von Google oder Bing hilft nicht weiter. Wohl aber die Suche nach einem Digitalisat des „Wahren Jacob“, bei dessen Durchsicht der Voranschau des Jahrgangs 1906 man schnell auf die Karikatur stößt. Die Volltextsuche wäre eine hilfreiche Alternative, hat allerdings leider nicht funktioniert.

Der Vorteil der digitalisierten Zeitung ist, dass die Karikatur im Kontext ihrer Publikation betrachtet werden kann. Das hilft in diesem Fall auch nicht weiter. Weil das Heft keine weiteren Informationen zu dem Thema enthält.

Die erste Vermutung war nun, da keine Namen oder weiteren Hinweise angegeben sind, dass es sich um bekannte Personen handeln muss, die sich für die Leser der Zeitung keiner weiteren Erläuterung mehr bedurften. Da der Titel „Aus unseren Kolonien“ lautet, war anzunehmen, dass es sich um Personen handelt, die nicht nur weithin bekannt waren, sondern sich 1906 auch in einer der deutschen Kolonien in Afrika aufgehalten haben.

Dass es sich um eine der deutschen Kolonien in Afrika handeln muss, ist aus dem Possessivbegleiter „unseren“ sowie dem historischen Kontext abzuleiten. In das Jahr 1906 fallen sowohl der Maji-Maji-Krieg in Deutsch-Ostafrika sowie der Herero-Krieg in Deutsch-Südwestafrika. Die genaue Lokalisierung bleibt also zunächst unklar, ist vielleicht aber auch intendiert.

Da wir von optischen Ähnlichkeiten mit historischen Personen ausgingen, haben wir über online verfügbare Listen und Porträts das Führungspersonal der Kolonialverwaltung in beiden Kolonien sowie der Kolonialabteilung bzw. des späteren Reichskolonialamtes überprüft.

Dabei fanden sich gewisse Ähnlichkeiten, aber keine die letztendlich eindeutig oder überzeugend gewesen wäre. Nach der Ausweitung der Suche auf „Industrielle“ entstand die Idee, die wir letztlich auch für schlüssig zur Interpretation der Karikatur halten, dass es sich nämlich nicht um zwei konkrete Personen, sondern vielmehr um Repräsentanten gesellschaftlicher Gruppen, des Adels/Koloniallobby und der Industriellen, handelt.

Das passt insofern ins Bild, als es sich bei Wahren Jacob um die zentrale Zeitung der SPD handelt, die auf Grundlage des Marxismus nicht einzelne Personen, sondern „Klassen“ für den Gang der Geschichte, und damit auch für die Kolonialverbrechen, verantwortlich macht. Gekennzeichnet sind sie durch entsprechende Attribute (dicker Bauch, Zigarre, Zylinder, Monokel etc.).

Irritierend bleibt die in schwarz-weiß angedeutete Farbenfolge der Flagge: Man vermutet „schwarz-rot-gold“, was so gar nicht passen mag, weil die Farben des Deutschen Reiches ja „schwarz-weiß-rot“ waren, die aber hier offenkundig nicht abgebildet sind. Ganz klären ließ sich die Frage nach dem Warum nicht. Hinweise sind herzlich willkommen, auch falls sich an anderer Stelle ein Fehler eingeschlichen haben sollte.

Bekanntermaßen steht „Schwarz-Rot-Gold“ eigentlich für die demokratischen Traditionen der deutschen Geschichte. Deshalb irritiert die Fahne in dieser Karikatur. Zunächst haben wir überprüft, ob es im Bereich der deutschen Kolonialflaggen vielleicht eine besondere Farbkombination gab, die im Bild wiedergegeben sein könnte. Dem ist aber nicht so. Alle deutschen Kolonialflaggen basierten auf den Farben der Reichsfahne (siehe die umfangreiche Übersicht in der Wikipedia).

Ein Hinweis zur Deutung der vermutlich „schwarz-rot-goldenen“ Flagge fand sich dann doch, gleichfalls in der Wikipedia:

„Interessant ist die Tatsache, dass einige rechtsextreme Gruppierungen und Parteien die Farben Schwarz-Rot-Gold als Ausdruck ihrer „nationalen Opposition“ wählten. So hieß es in den „Leitzielen“ der im Jahr 1900 aus der Spaltung der Deutsch-Sozialen Reformpartei hervorgegangenen antisemitischen Gruppierung gleichen Namens: „Wir brauchen ein deutsches Zentrum, eine deutsch-soziale Reformpartei. Ihr Banner sei schwarz-gold-rot, die Fahne des geeinten Großdeutschlands (österreichisch schwarz-gold und deutsch schwarz-weiß-rot vereinigt)“.

[…]  Insgesamt sah das gesamte „großdeutsche Lager“ in Schwarz-Rot-Gold den Ausdruck der eigenen politischen Zielsetzung. Neben den antisemitischen Parteien gehörten dazu vor allem auch die Linksliberalen in Bayern, Baden und Württemberg.

Die Farben Schwarz-Rot-Gold spielten auch eine nicht unbedeutende Rolle in der Völkischen Bewegung. Grundsätzlich bestand dort die Tendenz, die Farben der alten Nationalbewegung zu übernehmen und für die eigenen Zwecke anzupassen.“

Ich muss zugeben, das war mir bislang völlig unbekannt, aber die Erklärung für das Nutzen der Farben scheint schlüssig und sie liefert einen Hinweis für das Verständnis der Karikatur: Bringt man nämlich völkische Bewegung und Imperialismus zusammen, landet man schnell beim Alldeutschen Verband (ADV), dessen Position in der Karikatur vermutlich kritisiert werden soll. Und tatsächlich finden sich auch für das Jahr 1906, wenn zeitlich etwas später belegt, Aussagen des damaligen Vorsitzenden, die sehr gut zur Bildunterschrift der Karikatur passen (vgl. PDF, S. 3).

Für eine abschließende Klärung müssten noch weitere Informationen hinzugezogen werden. Eine kursorische Durchsicht des Wahren Jacob, ob z.B. die schwarz-rot-goldene Flagge in anderem Zusammenhang eindeutig mit dem Alldeutschen Verband in Verbindung gebracht wird, blieb erfolglos. Ggf. wären auch optische Ähnlichkeiten mit zwischen dem Führungspersonal des ADV und den abgebildeten Personen zu prüfen.

Auch wenn wir die Karikatur nicht zweifelsfrei entschlüsseln konnten, stehen für mich am Ende der Recherche drei Erkenntnisse:

1) Die schnellen und vergleichsweise effektiven Möglichkeiten im Internet eigene Hypothesen zu prüfen, indem man gemeinsam arbeitet und unterschiedliche Suchstrategien miteinander verbindet. Auch wenn keine Einordnung oder Darstellung vorliegt, lassen sich auf diese Weise unbekannte historische Bilder entschlüsseln, vielleicht nicht immer eindeutig, aber zumindest weitgehend.

2) Vor 20 Jahren, im ausgehenden Zeitalter der Zettelkästen, hätte es viel Erfahrung und Wissen benötigt, um diese Operationen zum Entschlüsseln einer unbekannten Karikatur durchzuführen. Wo hätte man die Biographien und ggf. Porträts von Kolonialbeamten nachschlagen können, deren Namen man nicht einmal kennt, sondern nur deren Funktionen? Wo wäre eine Übersicht der Kolonialflaggen verfügbar gewesen? Damals eher eine Arbeit für ausgebildete Historiker, für Studierende schon schwierig, für Schüler unmöglich.

Die beschriebene Vorgehensweise zeigt, wie wichtig es ist, angesichts der vielen und schnell verfügbaren Informationen, selbst Fragen formulieren und Hypothesen aufstellen zu können, um diese dann zu prüfen. Diese „detektivische“ Spurensuche kann Spaß machen, muss aber systematisch angeleitet und gelernt werden. Einfach mal im Internet suchen als Auftrag im Unterricht reicht nicht aus.

3) Die Erfahrung, die vermutlich viele Schülerinnen und Schüler im Geschichtsunterricht machen, wenn sie vor einer Karikatur sitzen und weder die Personen noch die Symbole (er)kennen. Wir Geschichtslehrer „lesen“ und deuten die Karikaturen, weil wir Symbole und Personen wiedererkennen. Es ist für angehende und im Beruf stehende Lehrkräfte eine hilfreiche Erfahrung, mindestens einmal vor einer Karikatur gesessen zu haben, die sie auch nach ihrem Studium nicht verstehen. Das ist vergleichbar mit der Vorgabe, dass wer Deutsch als Fremdsprache lernt, in seinem Studium auch eine Sprache mit nicht-lateinischen Schriftzeichen erlernen muss, um die Schwierigkeiten der Lernenden besser nachvollziehen zu können.

Zum Verstehen von Karikaturen braucht es letztlich eine große „Bilderdatenbank“ im Kopf, die zum Vergleich mit den Elementen, Symbolen und Personen einer Zeichnung abgerufen werden kann. Ähnliches gilt für Anspielungen auf Religion, Mythologie und Redewendungen, die vielen Schülerinnen und Schülern völlig unbekannt sind. Das ist ein Grund, warum Karikaturen im Unterricht für Lernende so unglaublich schwierig sind. Was spräche dagegen statt nur sehr einfache Karikaturen auszuwählen oder Frustrationen aufzubauen, den Schwerpunkt ein wenig zu verschieben und mit den Schülerinnen und Schüler das Internet zu nutzen, um Recherche- und Vergleichsstrategien zur Entschlüsselung historischer Bilder zu entwickeln und einzuüben?

Afrika im Geschichtsunterricht

Andreas Körber weist in seinem Blog auf eine Veranstaltung am 25. Juni in Hamburg, die sich mit der Frage „Afrika – (kein) Thema im hiesigen Geschichtsunterricht?“ auseinandersetzt. Meiner Erfahrung nach spielt Afrika in deutschen Schulen vor allem dann eine Rolle, wenn Aktionstage oder Projetkwochen für „Afrika“ organisiert, Geld gesammelt und den bedürftigen Afrikanern geschickt wird. Selbst in Schulen, die eine Partnerschule in einem afrikanischen Land haben, kommt es selten zu einem Dialog.

Für den Geschichtsunterricht ist weiterhin dem Resümee von Dennis Röder zuzustimmen:

Afrika taucht in heutigen Lehrplänen und Schulbüchern kaum auf. Wir verbinden mit der ägyptischen Geschichte weniger Afrika als eher eine frühe Etappe zur „europäischen Erfolgsgeschichte“.

Erwähnung findet die Geschichte des Kontinents sonst nur in Kontakt mit Europa (Kolonialismus, Sklavenhandel, Imperalismus, Dekolonisation) und leider weitgehend auch weiterhin ohne afrikanische Perspektiven, sondern nur mit (kontroversen) europäischen Quellen. Wie Material aussehen könnte, das auch afrikanische Stimmen berücksichtigt und diese als handelnde Akteure gleichberechtigt neben die Europäer stellt habe ich versucht in einem Arbeitsblatt zum Beginn der deutschen Kolonialherrschaft in Ruanda aufzuzeigen.

Die WM bietet natürlich Gelegenheit, Afrika zu thematisieren. Das Interesse, das durch die „erste Fußball-Weltmeisterschaft in Afrika“ (worauf die Moderatoren der Fernsehsender in jedem zweiten Satz drauf hinzuweisen scheinen) geweckt wird, kann natürlich auch im Geschichtsunterricht aufgegriffen werden. Hier bietet sich die Chance neben Tierfilm und Fußball einen anderen Blick auf Afrika zu werfen. Gerade die notenfreie Zeit jetzt kurz vor den Sommerferien bietet sich an, extracurriculare Themen aufzugreifen und projektartig zu bearbeiten.

Wer Afrika im Unterricht thematisieren möchte, dem bietet eine Liste mit Links, die in der diigo-Gruppe Geschichtsunterricht unter „Afrika“ verschlagwortet sind, einen ersten Anlaufpunkt für Materialien.

DW-World Dossier: 50 Jahre Unabhängigkeit – Afrika und das koloniale Erbe

„17 afrikanische Kolonien erreichten vor 50 Jahren ihre Unabhängigkeit. Die europäischen Kolonialherren übergaben die Macht an Afrikaner. Das große Jubiläum – ein Grund zum Feiern?“ Das Online-Dossier der Deutschen Welle nähert sich mit zahlreichen Artikeln und Hörbeiträgen der  politischen Geschichte und Gegenwart des afrikanischen Kontinents aus verschiedenen Perspektiven.

Deutsche Kolonialherrschaft in Ruanda

Bis 1916 gehörte Ruanda zu Deutsch-Ostafrika. Das Arbeitsblatt versucht den afrikanischen Stimmen einen Raum zu geben und sie mit den offiziellen Berichten der Europäer in Kontrast zu setzen.

Dies scheint immer noch weitgehend ein Manko der Darstellung der afrikanischen Geschichte in deutschen Geschichtsbüchern. Auch die Kritik an Kolonialismus und Imperialismus bleibt auf die europäische Perspektive beschränkt. Die „wilden Schwarzen“ werden zu „armen Opfern“ europäischen Expansionsdrangs bleiben aber weiterhin nur Objekte europäischer Geschichtsdarstellung.

Die Reichsflagge wurde in Ruanda zunächst von Forschungsreisenden gehisst. Auf der Berliner Konferenz war Afrika zwischen den europäischen Mächten aufgeteilt worden. Zur Erkundung künftiger „Schutzgebiete“ setzte die Regierung und die Deutsche Geographische Gesellschaft Offiziere private Reisende ein. Die Berichte, die diese Männer über Afrika lieferten, beeinflussten die spätere deutsche Kolonialverwaltung sehr stark.

Das Arbeitsblatt stellt den Versuch da, am Beispiel Ruandas die Darstellung der Kolonialzeit um die afrikanische Perspektive im Sinne einer Multiperspektivät zu ergänzen. Dabei wird in dem kurzen Textausschnitt die Handlungsstrategien der Ruander deutlich, die den Deutschen keineswegs so „naiv“ begegneten, wie die Berichte der Deutschen suggerieren.

Auch die Relatitivät der Zuschreibung von schwarz und weiß als konträre Hautfarben kann durch die ruandische Wahrnehmung der Deutschen als „rote Männer“ thematisiert werden. Vertiefend bietet sich anschließend eine kritische Diskussion der Hamitentheorie sowie der Erfindung der Tutsi als „Rasse“ mit hellerer Hautfarbe an.

Download Arbeitsblatt Kolonialherrschaft Ruanda


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