Neue Beiträge zur Wikipedia

In der ersten Ausgabe der Zeitschrift für digitale Geschichtswissenschaften findet sich auch ein Beitrag zur Wikipedia. Ziko van Dijk, Vorsitzender des Fördervereins Wikimedia Nederland, schreibt unter dem Titel „Die Vermählung von Klio und Isidor“ über das Verhältnis von „Geschichte“ und zur „Freie[n] Enzyklopädie Wikipedia“. Der Beitrag enthält eigentlich nichts Neues. Van Dijk bietet einen Überblick zur Entstehung und den Prinzipien der „Online-Enzyklopädie“, den Forschungsstand mit den verschiedenen Positionen zur Wikipedia sowie als Wikipedianer auch einen kleinen Einblick ins Innenleben des Projekts.

Einige Tage vorher hatte bereits Peter Haber „die unkorrigierte und fussnotenlose Fassung“ seines Artikels in das Histnet-Blog gestellt, der in Geschichte in Wissenschaft und Unterricht („Wikipedia“ 5/6 2012, S. 261-270) erschienen ist. Von Seiten der wissenschaftlichen Betrachtung der Wikipedia fasst der Titel bereits den Tenor des Beitrags zusammen: „Wikipedia. Ein Web 2.0-Projekt, das eine Enzyklopädie sein möchte„.

Aus der Sicht eines Schulpraktikers scheinen besonders die „vier simplen Regeln für die Nutzung der Wikipedia“ am Ende des Beitrags interessant. Haber nennt im Text „Schule und Universität“ immer in einem Atemzug. Er schreibt, dass unter Beachtung der von ihm postulierten Regeln, „sich Wikipedia auch im Unterricht sinnvoll nutzen“ lässt. Damit bezieht er sich vermutlich auf den schulischen „Unterricht“, denkt diesen aber auf jeden Fall mit. Es ist keinesfalls ausschließlich die Universität gemeint.

Wie sehen nun seine Regelvorschläge zur Nutzung aus?

1) Zum einen sollte es Pflicht sein, bei jeder Verwendung eines Wikipedia-Eintrages die entsprechende Diskussionsseite zu konsultieren. Bereits beim ersten Querlesen lässt sich die Struktur und die Intensität der Debatten einschätzen.

2) Die zweite Regel besagt, dass mit der gleichen Aufmerksamkeit die Versionsgeschichte durchgeschaut werden sollte: Was wurde in welcher Häufigkeit geändert? Mit welchen Themen beschäftigen sich die Hauptautoren sonst noch in der Wikipedia (die werden jeweils automatisch verlinkt), was geben die Autoren von sich preis?

Die Informationen aus den Diskussionsseiten und Versionsgeschichten ergeben unter Umständen ein recht präzises Bild darüber, wo die Problemzonen des Textes sind und wie breit abgestützt die verwendeten Informationen sind.

3) Hier knüpft auch die dritte Regel an: Was lässt sich aus den Zusatzinformationen unter „Siehe auch“, „Literatur“, „Weblinks“ und „Anmerkungen“ herauslesen? Unter dem Stichwort „Siehe auch“ werden weitere Wikipedia-Einträge verlinkt, die zum vorliegenden Text einen Bezug haben. Damit lassen sich sehr schnell Themenaspekte identifizieren, die anderswo abgehandelt werden. Die Literaturliste zeigt, ob Fachliteratur oder nur allgemeine Sachbücher verwendet wurden, das gleiche gilt für die Weblinks. […]

4) Als vierten Punkt kann man – nicht zuletzt aufgrund der Ergebnisse der Wiener Untersuchung – empfehlen, den entsprechenden Eintrag in möglichst viele Sprachversionen nachzulesen.

Die Sinnhaftigkeit der Vorschläge erschließt sich jedem, der sich ein wenig mit der Wikipedia beschäftigt. Die Praktikabiltät im Hinblick auf das Zielfeld Schule scheint mir jedoch äußerst zweifelhaft. Ich unterricht an einem Gymnasium und nehme diese Erfahrungsfeld als Hintergrund meiner Einschätzung.

zu 1) Das kann ich mir durchaus vorstellen. Einfacher und schneller leistet hier jedoch eine Hilfsseite wie Wikibu eine erste Orientierung, die zugleich mehr (vor allem quantitative) Kriterien erfasst. Für Schüler, vor allem der unteren Stufen, scheint  mir das der bessere Einstieg. der zudem auch die Konstruktionsprinzipien der Artikel graphisch gut übersichtlich offenlegt.

zu 2) Das mag für einen Wissenschaftler zu leisten sein. Exemplarisch kann das Autorenpinzip der Wikipedia so einmal deutlich machen. Für den Arbeitsalltag ist die Regel nicht praktikabel. Bei einem Artikel mit mehr als 3 Autoren kostet das viel zu viel Zeit für die Nutzung eines Nachschlagwerks. Diese Regel macht die Nutzung nicht mehr sinnvoll, sondern beim Versuch der Einhaltung unmöglich.

zu 3) Beim besten Willen selbst die meisten Schüler der Oberstufe im Leistungskursbereich können das nicht erfassen. Wie soll ein Schüler beurteilen, ob hier Fachliteratur oder Sachbücher referiert werden? Schulisches Arbeiten in der Oberstufe soll wissenschaftspropädeutisch sein. Wenn hier herangeführt wird an das Prinzip, dass Aussagen belegt werden müssen, dass Literaturangaben und Fußnoten grundlegend sind für wissenschaftliches Arbeiten sind und Hinweise auf die Qualität einer Arbeit erlauben, ist viel erreicht. Und das bezieht sich auf die gymnasiale Oberstufe. Wie sieht es bei jüngeren Schülern, wie in anderen Schulformen aus? Für wen sollten diese „simplen“ Regeln eine Hilfe sein?

zu 4) Hier gilt das bereits Gesagte. Dafür fehlen den meisten Schülern schlicht die Sprachkenntnisse. Ist in der Oberstufe vermutlich eine relativ problemfreie Rezeption des englischsprachigen Artikels möglich, gibt es vielleicht noch andere solide Sprachkenntnisse von Zuhause, so ist das keine Regeln die allgemein für alle Alterstufen und Schulformen hilfreich wäre. Womit sich hingegen sehr gut arbeiten lässt, auch schon in der Mittelstufe, ist mit dem Titeln der Artikel bzw. den sprachlich unterschiedlichen Bezeichnungen für ein Ereignis (z.B. Hitler Putsch vs. Beer hall putsch), aber das ist an sich nichts Neues, sondern ein Verfahren, das im bilingualen Geschichtsunterricht schon lange fest verankert ist.

Abschließend schreibt Haber zu Recht:

„Alle diese Regeln beanspruchen Zeit, verhindern aber dadurch einen achtlosen Umgang mit Informationen, die sich durch eine sehr prekäre Qualität und durch wenig Stabilität auszeichnen. Wikipedia ist Teil unserer modernen Wissensgesellschaft geworden und hat dazu beigetragen, die Unterschiede zwischen Information und Wissen zu vernebeln. Schule und Universität sind weder berufen noch in der Lage, dies zu ändern. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, den auszubildenden Schülern und Studierenden Hilfsmittel auf den Weg zu geben, um mit diesen Herausforderungen besser umgehen zu können. Wikipedia ist ein wertvolles Instrument, das aber eine reflektierte Nutzung voraussetzt.“

Ja, der Umgang mit der Wikipedia muss gelernt werden. Ich sehe das auch als Aufgabe von Schule. Das braucht auch Zeit. Aber in den von Haber formulierten „Regeln“ finde ich für die Praxis keine Hilfe. Aus der eigenen Unterrichtspraxis her scheinen sie mir vielmehr – zumindest für den Bereich Schule – einigermaßen weltfremd.

Hinzu kommt, dass Haber die Artikel immer als Ganzes in den Blick nimmt. Das ist aber nur die Produzentenseite. Die Nutzung und Rezeption der Artikel ist vermutlich (?) bisher weniger erforscht (Gibt es in dem Bereich noch etwas außer den grundlegenden Beiträgen von Jan Hodel?). Diese kann aber sehr unterschiedlich sein.

So nutzen auch viele Schüler die Wikipedia nicht „achtlos“, sondern sehr gezielt z.B. zum Nachschlagen einzelner Namen, Daten oder auch für die fremdsprachliche Übersetzung von Fachbegriffen. Für diese Art der Nutzung ist der beschriebene Aufwand völlig unangebracht, weil unökonomisch. Dass sich dabei Fehler einschleichen können, ist möglich. Das ist aber auch bei gedruckten Lexika so.

Als Lehrkraft Schüler apodiktisch feste Regeln für die Nutzung zu diktieren, scheint mir kontraproduktiv. Man riskiert damit, in diesem Punkt nicht ernst genommen zu werden, da Schüler sehr wohl unterschiedliche Formen der Nutzung unterscheiden, Arbeitsaufwand und Resultat in der Regel sehr genau gegeneinander abwägen.

Vielmehr ist für eine (notwendige) Sensibilisierung und reflektierte Nutzung das gemeinsame Erarbeiten von Regeln wesentlich zielführender. Der hierbei investierte zeitliche Aufwand lohnt sich dann in der Tat.