Warum #OER?

Damian Duchamps hatte letzte Woche zunächst gefragt, ob Open Educational Resources in Deutschland überhaupt die Zielgruppe Lehrer erreichen. Im Lauf einer Diskussion unter anderem auf Twitter hat er mit zwei weiteren Beiträgen kurz begründet, warum Lehrer aus seiner Sicht OER produzieren und nutzen sollten und warum es OER auch in Deutschland braucht.

Aus meiner Sicht wird zu Recht kritisiert, dass in den letzten beiden Jahre auf der Metaebene viel über OER und Konzepte gesprochen wurde, aber im Vergleich zur Debatte relativ wenig Material produziert unter entsprechenden CC-Lizenzen ins Netz gestellt wurde. Ausnahmen bestätigen hier wie immer die Regel, verwiesen sei an dieser Stelle auf das Zum-Wiki und speziell für Geschichte das Segu-Projekt.

Ein weiteres (Gegen-) Argument verweist auf die Bedeutung von OER in ärmeren Ländern, verbunden mit der Frage, ob in einem vergleichsweise reichen Land OER überhaupt bedeutsam sein können. Dazu habe ich einen interessanten Abschnitt in dem UNESCO-Bericht zur „Mobile Learning Week“ gelesen (PDF):

studies reveal that in poor countries there is, on average, just one book to every 19 children. Book shortages confront developed countries as well. Surveys conducted in the United Kingdom reveal that one in every three children in the country do not have a single book in their home. Increasingly however, people do have access to a working mobile device, even people living in areas of extreme poverty. (p. 3)

Das Zitat fügt meines Erachtens einen wichtigen Aspekt hinzu: Es geht um die Lerner und die Verfügbarkeit von Lernmaterialien. Der Vorteil von digitalen Materialien liegt unter anderem darin, dass sie auch auf mobilen Geräten verfügbar sind. Es reicht aber nicht, die Originalquellen, also hunderte von Seiten, z.B. die komplette Autobiographie von Bismarck, digitalisiert online zu haben. Um Jugendlichen einen Zugang zu ermöglichen, braucht es bearbeitete, also didaktisierte Angebote, mit Auszügen, Leitfragen, Übungen etc.

Die Lernerperspektive kommt mir in der deutschen Diskussion bislang zu kurz: Gedacht wird von Institutionen und Lehrkräften. Das ist aber nicht alles. Natürlich sollte man nicht dem naiven Glauben verfallen, dass, nur weil Materialien da sind, nun alle diese nutzen und kompetente Selbstlerner werden. Das Phänomen weitgehend oder auch ganz bücherfreier Haushalte ist nicht neu, sondern hat es immer gegeben. Als schon historischen Vergleich zu Zitat aus dem UNESCO-Text, der mit dem Vorhandensein mobiler Endgeräte auf den Zugang zu Online-Lernmaterialien verweist, ließe die Omnipräsenz des Fernsehens vor wenigen Jahrzehnten heranziehen. Auch in einer Zeit, in der es nur drei Programme und einen Sendeschluss gab (ja, ich bin alt genug, das noch erlebt zu haben), haben nicht alle Familien Bildungs- und Schulfernsehen geschaut, wohl aber den „Tatort“ und/oder „Einer wird gewinnen“. Nur, weil ein Angebot da ist, wird es noch nicht genutzt. Eine wichtige Aufgabe besteht darin, und das ist in meinen Augen eine zentrale Aufgabe der Schule, die alternativen Nutzungsmöglichkeiten und die Zugänglichkeit von guten Lernmaterialien aufzuzeigen und selbstständiges Lernen anzuleiten und zu fördern.

Welches Potential OER in Kombination mit Social Media entfalten können, möchte ich abschließend noch an einem Erlebnis orientieren, das mich tief beeindruckt hat. Zur Anbahnung eines Comenius-Projekts waren wir Ende vergangenen Jahres in Zentralanatolien in der Türkei in einer mittelgroßen Industriestadt. Unsere Partnerschule dort ist vor rund zehn Jahren gegründet worden, besitzt keine Bibliothek, wohl aber seit diesem Jahr in jedem (!) Klassen- und Fachraum ein interaktives Whiteboard. Der Zugang zu Bildung dürfte in dieser Region bis vor ein paar Jahren auf das staatliche Schulangebot sowie weitere staatliche Kultureinrichtungen, wie ein lokales Kulturzentrum, beschränkt gewesen sein.

Bei unserem Besuch hat sich ein längeres und sehr intensives Gespräch mit einer Schülergruppe ergeben. Die Schüler im letzten bzw. vorletzten Schuljahr sprachen teilweise besser Englisch als ihre (Englisch-) Lehrer, mit denen wir das Projekt vorbereiteten. Da lag die Frage nahe, wo sie denn so gutes Englisch gelernt hätten, ob sie vielleicht mal längere Zeit im Ausland waren. Nein, antworteten die Schüler, aber sie würden über das Internet Filme im Original schauen und mit Freunden im Ausland auf Englisch skypen.

Wir fragten weiter, was sie denn später werden wollten. Einer der Schüler erzählte, dass er gerne Ingenieur werden möchte und an die beste Uni in der Türkei will. Dafür braucht er hervorragende Noten in der Schule sowie in der Aufnahmeprüfung der Uni als formale Qualifikation. In der Türkei läuft die Vergabe von Studienplätzen nach sehr leistungsorientierten Rankings, in denen es auch schon früh darauf ankommt, die richtige, das heißt im System als gut bewertete Schule zu besuchen. Aber, fügte er hinzu, der ganze Bereich der Mathematik und des Ingenieurwesens würde ihn so interessieren, er würde jetzt schon die Vorlesungen aus Cambridge anschauen, die im Netz stehen.

In der weiteren Diskussion ergab sich dann noch ein Gespräch über den Unterricht, der in Religion wie auch in Geschichte stark ideologisch (sunnitisch und nationalistisch) gefärbt ist. Die Schüler sagten deutlich, dass sie nicht glaubten, was ihnen dort im Unterricht vermittelt wird. Sie würden aber die Darstellungen der Lehrer und Schulbücher überprüfen, in dem sie sich über die Themen auch im Internet informierten. In der Schule sagen sie davon nichts. In den Tests erzielen sie exzellente Noten, weil sie genau wissen, was die Lehrer hören bzw. lesen wollen und weil sie die Noten brauchen, um später einen guten Studienplatz zu bekommen.

Das waren mit Sicherheit die besten Schüler der Schule, mit denen wir da gesprochen haben. Dass sie so gut sind, hat aber nur zum Teil mit ihren Lehrern und der Schule zu tun. Das Beispiel zeigt, welches, auch durchaus subversives, Potential in dem im Netz bereitgestellten Materialien, ob nun in der aufgezeichneten Vorlesung oder in Wikipedia-Artikeln, liegt. Vor dreißig Jahren hatten Schüler in Zentralanatolien, aber auch in der Eifel oder im Harz, keine oder zumindest kaum eine Möglichkeit gehabt, die in der Schule vermittelten Darstellungen und Deutungen zu prüfen, je nach Schulort – gerade in ländlichen Regionen abhängig vom Vorhandensein bzw. der Qualität einer Gemeindebibliothek sowie ggf. mögliche Vorgaben staatlicher oder kirchliched Institutionen zur Auswahl der Bücher – hatten sie auch keine Möglichkeiten nach Interessen Inhalte über das in der Schule Dargebotene hinausgehend zu lernen. Das ist heute anders. Es geht also auch um Bildungschancen und Bildungsgerechtigkeit. Und auch darum ist es wichtig, Lernmaterialien nicht nur für den eigenen Unterricht oder die Lehrveranstaltung an der Uni zu produzieren, sondern sie möglichst leicht auffindbar und frei zugänglich zu veröffentlichen.

8 Gedanken zu „Warum #OER?

  1. Spannende Geschichten aus Zentralanatolien! Danke dafür. Nicht einverstanden bin ich mit deiner Forderung nach Kleingehackten Materialien ala Arbeitsbögen mit „Leitfragen“ als OER: Das ist doch bloß die Digitalisierung der Offline-Unterrichtsrealität mit vorgegebenen Bedeutungen -und da ist der Unterschied zum offiziellen „ideologischen“ Unterricht in Zentralanatolien kleiner als du glaubst! Denn der korrigierende Effekt durch eigene Urteile via Internet entsteht bei den türkischen Schülern v. a. durch ihr selbstständiges Urteilen. Das aber lernt man nur, wenn man Antworten auf seine eigenen Fragen sucht und findet. Die Alternative zum Kleingehäckselten didaktisierten Textlein ist ja nicht der Schinken (sorry, die Monografie oder Riesenquelle – v.a sind ja diese Mächtigemännerbiografien sehr überschätzt ), sondern (ok nehmen wir Geschichte: ) darstellende Hypertexte mit viel Multimedia. Wenn ich mich über einen historischen Gegenstand informieren will, lese ich keine Primärquellen. Du? Und ich würde mir wenn ich es tue, z. B interessante Quellensammlungen (etwa Feldpostbriefe o. Ä.) Leitfragen von jemand anderem dazu verbitten. Stattdessen möchte ich als Lernender mit interessanten Leuten und mit Freunden meine Fragen und Einfälle dazu austauschen können, und Hinweise darauf erhalten, womit und auf welche Weise ich diese Fragen klären könnte: weiterführendes Material also, mehr overview einerseits, mehr Fokus, Spezialisierung und Tiefe andereseits. Das wäre wie bei Wikipedia jeweils querverweisend an jedem Einzel aterial zu verlinken. Also Wissensvernetzungs-Unterstützung.

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    • Liebe Lisa, Danke für deinen Kommentar. Aber reib dich doch nicht so an Leitfragen und Aufgabenstellungen. Das sind Angebote und die können hilfreich sein, weil sie Orientierung geben und zur Auseinandersetzung anregen; nicht als vorgebenes, abzuarbeitendes Pflichtprogramm.
      Ich finde es z.B. als Geschichtslehrer spannend, die Fragen zu lesen, die ein Historiker an eine Quelle stellt ebenso wie übrigens auch seine Auseinandersetzung damit. Er verweist mit seinen Fragen vielleicht auf Aspekte, die interessant sind, die mir selbst aber vielleicht gar nicht aufgefallen wären.
      Und wenn ich finde auch das Lesen von Quellen interessant, und die Auseinandersetzung mit Quellen nicht nur im Sinne von Kompetenzorientierung auch wichtig. Wenn aufgrund eigener Fragen die Beschäftigung mit Quellen vollkommen wegfällt und sich allein auf (kurze) Darstellungen beschränkt, fehlt etwas Wesentlichen für das, was im englischsprachigen Bereich im Konzept des ‚historical thinking‘ gefasst wird.
      Die türkischen Schüler, von denen ich hier erzähle, brauchen keine kleinschrittigen didaktisierten Materialien, aber sie gehören zu einer kleinen Lernelite, die in besonderem Maße vom Netz profitiert. Andere tun das weniger, oder – siehe TV-Vergleich – vielleicht auch gar nicht. Im übrigen sind darstellende Hypertexte mit viel Multimedia in Zusammenstellung, Auswahl, Formulierung und Kürzung usw. auch didaktisierte Materialien, nur die Form ist anders; Deutungen werden hier genauso enthalten.
      Und zuletzt: Ja, es gibt so „kleingehackte“ Fragen und Aufgaben, die Deutungen vorgeben und Lernende unerträglich gängeln. Aber nur weil es schlechte Beispiele gibt, Aufgaben und Leitfragen vollständig abzulehnen, schießt über das Ziel hinaus. Um den Unterschied noch einmal deutlicher zu machen: Das gesetzliche Verbot (!) von Kritik an der Person und Politik Atatürks, das natürlich auch für die türkischen Lehrbücher und den Unterricht gilt, ist etwas anderes als orientierende Leitfragen, die, wenn sie gut sind, verschiedene Deutungen und Antworten zulassen, das eigene Denken anregen, aber natürlich immer die Möglichkeit offenhalten, eigene Fragen zu stellen und begründet andere Meinungen zu äußern.

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      • Na klar ist überall Deutung (und gesellschaftliche Bedeutung), dran – ohne das gibt es beim Menschen nichts. Die Idee einer „objektiven“ Geschichtsschreibung kann doch ernsthaft niemand mehr aufrechterhalten! Aber unter „Didaktisierung“ versteh ich doch nochmal was anderes. Nicht, dass die Lernenden vorgedachte Lösungen von Problemen alleine herausfinden sollen, ist der Sinn einer Personalisierung des Lernbegriffs, sondern dass sie IHRE Lösung IHRER Probleme finden. Und daran, s
        dies zu lernen, hindern m.E. diese „didaktisirungen“, die ja keine Vorschläge mit ihren Leitfragen machen, sondern Aufgaben stellen, die wo klar Bestimmtes hinführen sollen.
        Das Cermeiden solcher Bevormundungen heißt gerade nicht: Bleib mit deinem Kram alleine. Aber den Austausch, das sharing mit anderer Leute Fragen und Perspektiven, kann man nur dann wirklich machen, wenn man seine eigene dabei und von allem Anfang an (!) entwickeln und äußern darf. Nicht erst, wenn man genügend Aufgabenblätter mit Leitfragen abgearbeitet hat, um angebliches Grundwissen erarbeitet zu haben. Denn das kommt da ei heraus, das sehen wir dann im Abitur: Das eigene Urteilen ist völlig unterentwickelt. Viele Schüler haben gar kein eigenes Urteil, trauen sich nicht, oder wenn, dann geben sie „abgewogenes“ von sich, was sie (hidden curriculum) gelernt haben, der Lehrer hören möchte. Oder – die andere Seite der gleichen Medaille -sie sind so ungeübt im eigenen Urteilen, dass sie, wollen sie tatsächlich eine eigene Meinung äußern, nur Stammtischniveau hinkriegen, weil sie nicht wirklich argumentieren gelernt haben.

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  2. OER. Solange ich – sauber gebunden – qualitativ hochwertigste Lehrbücher *bezahlt bekomme* vom Staat, ist die Existenz von OER Materialien, die ich mühsam zusammen suchen und zusammen stellen muss, für mich als gestresster Lehrer – *absolut keine Option*.

    Wo lebt ihr?

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    • Da kann ich nur für mich persönlich antworten: Ich bin Lehrer mit voller Stelle und drei verschiedenen Fächern am Gymnasium (siehe Impressum). Die Fachberatung ist zusätzliche Arbeit, da damit keine Entlastungsstunden verbunden sind.

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    • Lehrer sind sehr an OER interessiert. Meine Kollegen suchen – und finden – viel Material im Web, sprechen mich etwa regelmäßig auf Fundsachen auf meinem Blog an. (Deutschlehrer nutzen Bücher eh notorisch wenig, und Informatiklehrer sind an Downloads aus dem Web gewöhnt.) Zumindest die deutsche OER-Gemeinde sieht OER aber als synonym mit selbstbestimmtem Lernen der Schüler und der Diskussion darüber, und *daran* sind die meisten Lehrer nicht interessiert.

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  3. @Guido … also der Staat bezahlt mir nicht die Schulbücher (du meinst sicher auch eher Bundesländer). Einige bekommt man von den Schulbuchverlagen geschenkt.

    Zu der Frage: „Wo ihr wohnt?“ … das kann durchaus ein wichtiger Grund sein, wo man wohnt. In Rheinland-Pfalz gibt es nämlich keine Lehrmittelfreiheit.

    Und die Aussage: „qualitativ hochwertigste Lehrbücher“ … vielleicht hängt das auch vom Fach ab. Die Mathebücher gehen meist so einigermaßen. Aber in Chemie kann man seinen Unterricht ganz anders gestalten als das Buch es vorgibt. Und wenn einem das nicht gefällt, weil man es anders für sinnvoller und besser hält, dann passt ein Buch auch nicht mehr. Zudem würde ich mir zum Beispiel in Chemie ein stärker von Alltag ausgehendes Herangehen wünschen. Da gibt es nichts passendes. Zudem sind die Schulbücher in Chemie mit einer lächerlichen Anzahl an Aufgaben versehen. Da musst du Arbeitsblätter einsetzen. Natürlich kann man auch die bekommen, aber der Renner sind die Sachen auch nicht.

    Also erstelle ich meine AB meist selber und, idealistisch wie ich, stelle ich sie anderen zur Verfügung in der Hoffnung das andere mir auch ihr Material zur Verfügung stellen.

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  4. Pingback: Vorsicht “Materialtausch”! - "Brennpunkt Geschichte"

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