An dieser Stelle möchte ich einen Sammelband empfehlen, den ich vor kurzem selbst empfohlen bekommen habe. Um mir die Arbeit einfacher zu machen, zitiere ich einfach den ersten Satz des Buchrückens, weil er auch mein Lesegefühl gut zusammenfasst:
„Every once in a while, a book comes along, that is refreshingly original and makes on think anew about a ‚well-known‘ topic“. (Akhil Gupta, Standford University)
Ohne auf alle Artikel in Ausführlichkeit eingehen zu können, möchte ich einige Punkte herausgreifen: Besonders lesenswert fand ich den Aufsatz von Frank O’Gorman „The Secret Ballot in the Nineteenth-Century Britain“. Mir war vorher nicht klar, wie spät das heute als selbstverständliches Grundprinzip unserer Demokratie geltende geheime Wahlrecht eingeführt wurde – in England z.B. durch den bekannten ballot act von 1872! – und wie kontrovers es gesellschaftlich disktutiert wurde. Eine chronologische Übersicht findet sich übrigens bei der englischsprachigen Wikipedia. Die u.a. deutschen, französischen und niederländischen sind ürigens überraschend kurz und bieten keinen historischen Überblick. Erstaunlich! Aber hoffentlich keine Frage der Relevanz 😉
Neu war mir auch, dass sich das geheime Wahlrecht erst durchsetzen ließ in einem Bündnis von progressiven und reaktionären Kräften, wobei letztere darin eine Chance sahen, den Demokratisierungsprozess zügeln und kontrollieren zu können. Interessanterweise haben Untersuchungen des Wahlverhaltens in England ergeben, dass durch die Einführung des geheimen Wahlrechts zunächst kaum Veränderungen des Abstimmungsverhaltens zu beobachten war. Interessant fand ich zudem, die zahlreichen aus unterschiedlichen politischen Richtungen vorgebrachten Argumente gegen ein geheimes Wahlrecht. In Erinnerung geblieben ist mir vor allem die Argumentation, dass nur durch die Öffentlichkeit des Wahlakts sichergestellt werden könne, dass der einzelne Wähler für das Wohl der Gemeinschaft und nicht für sein Eigeninteresse abstimme. Ein grundlegend anderes Demokratieverständnis als heute, das sich übrigens in entsprechenden Inszenierungen und Ritualen rund um die Wahl widerspiegelte.
Auch der kultursoziologische Ansatz, die geheime Wahl als Technik und Performanz zu verstehen und dahingehend zu untersuchen, ist äußerst aufschlussreich, da in mehreren Artikeln überzeugend dargelegt wird, wie in völlig unterschiedlichen Kontexten, geheime Wahlverfahren ganz unterschiedliche Bedeutungen zugeschrieben bekommen, so dass man nicht von einem grundsätzlich demokratielegitimierenden Verfahren sprechen kann.
Um noch einmal auf die Chronologie zurückzukommen: Das moderne geheime Wahlverfahren ist übrigens in Australien entwickelt worden und von dort auch z.B. in den USA als „Australian ballot“ übernommen worden. Zum ersten Mal eingesetzt wurde es um 1855 in den australischen Staaten Tasmanien und Victoria. Zum 150. Jubiläum erschien 2005 ein kurzer, informativer Artikel in der Canberra Times, der sich gut zur Einführung eignet, vielleicht auch als Diskussionsgrundlage für eine entsprechende Einheit im Englischunterricht.
Romain Bertrand / Jean-Louis Briquet / Peter Pels (Hgg.), The Hidden History of the Secret Ballot, Bloomington/Indianapolis 2006.