Einer Karikatur auf der Spur 2: über die Online-Suche zur Entschlüsselung unbekannter Bilder

Der Wahre Jakob, 20.2.1906, Karikatur: Aus unseren Kolonien.

Karikatur: Aus unseren Kolonien, aus: Der Wahre Jacob, 20.2.1906 .

Eine Karikatur. Noch eine. Ein spannendes Thema. Mit Begeisterung entdecke ich, welche großartigen Bestände bereits online verfügbar sind. Neu entdeckt habe ich den „Wahren Jacob“, der gleichfalls von der Universitätsbibliothek Heidelberg digitalisiert wurde. Schülerinnen aus dem Leistungskurs haben für ihre Stunde im Rahmen einer LdL-Reihe, diese Karikatur gefunden, konnten aber die beiden abgebildeten Männer nicht identifizieren und hatten deshalb um Unterstützung gebeten.

Das war der Startschuss einer etwas umfangreicheren Suchaktion, die ich mit diesem Beitrag dokumentieren möchte. Was wir hier in wenigen Stunden am Computer recherchiert haben, hätte vor zehn Jahren noch Tage mit ausführlichen Bibliotheksbesuchen benötigt. Bevor ich die Rechercheschritte beschreibe, vorab noch zwei Bemerkungen:

Zum einen der Hinweis, wie spannend Lernen durch Lehren (LdL) sein kann, wenn Schülerinnen und Schüler selbst Material online für ihre Stunden zusammenstellen. Das fällt nicht selten raus aus dem Kanon der üblicherweise genutzten und oft reproduzierten Quellen und Darstellungen und hat mich um einige tolle und spannende Funde bereichert, die ich bislang nicht kannte und sicher bei anderer Gelegenheit auch selbst im Unterricht mal einsetzen werde.

Zum anderen: ganz herzlichen Dank an @frandevol und @kaiserkath, die gestern auf meine Bitte via Twitter um Hilfe bei der Suche reagiert und fieberhaft mit gesucht haben. Das war super und sehr hilfreich!

Ausgangspunkt war ein qualitativ eher schlechter Scan der Karikatur aus einem Buch, der sich auch in der englischsprachigen Wikipedia findet. Die Datierung ist mit 1906 noch recht ungenau. Die Bildersuche von Google oder Bing hilft nicht weiter. Wohl aber die Suche nach einem Digitalisat des „Wahren Jacob“, bei dessen Durchsicht der Voranschau des Jahrgangs 1906 man schnell auf die Karikatur stößt. Die Volltextsuche wäre eine hilfreiche Alternative, hat allerdings leider nicht funktioniert.

Der Vorteil der digitalisierten Zeitung ist, dass die Karikatur im Kontext ihrer Publikation betrachtet werden kann. Das hilft in diesem Fall auch nicht weiter. Weil das Heft keine weiteren Informationen zu dem Thema enthält.

Die erste Vermutung war nun, da keine Namen oder weiteren Hinweise angegeben sind, dass es sich um bekannte Personen handeln muss, die sich für die Leser der Zeitung keiner weiteren Erläuterung mehr bedurften. Da der Titel „Aus unseren Kolonien“ lautet, war anzunehmen, dass es sich um Personen handelt, die nicht nur weithin bekannt waren, sondern sich 1906 auch in einer der deutschen Kolonien in Afrika aufgehalten haben.

Dass es sich um eine der deutschen Kolonien in Afrika handeln muss, ist aus dem Possessivbegleiter „unseren“ sowie dem historischen Kontext abzuleiten. In das Jahr 1906 fallen sowohl der Maji-Maji-Krieg in Deutsch-Ostafrika sowie der Herero-Krieg in Deutsch-Südwestafrika. Die genaue Lokalisierung bleibt also zunächst unklar, ist vielleicht aber auch intendiert.

Da wir von optischen Ähnlichkeiten mit historischen Personen ausgingen, haben wir über online verfügbare Listen und Porträts das Führungspersonal der Kolonialverwaltung in beiden Kolonien sowie der Kolonialabteilung bzw. des späteren Reichskolonialamtes überprüft.

Dabei fanden sich gewisse Ähnlichkeiten, aber keine die letztendlich eindeutig oder überzeugend gewesen wäre. Nach der Ausweitung der Suche auf „Industrielle“ entstand die Idee, die wir letztlich auch für schlüssig zur Interpretation der Karikatur halten, dass es sich nämlich nicht um zwei konkrete Personen, sondern vielmehr um Repräsentanten gesellschaftlicher Gruppen, des Adels/Koloniallobby und der Industriellen, handelt.

Das passt insofern ins Bild, als es sich bei Wahren Jacob um die zentrale Zeitung der SPD handelt, die auf Grundlage des Marxismus nicht einzelne Personen, sondern „Klassen“ für den Gang der Geschichte, und damit auch für die Kolonialverbrechen, verantwortlich macht. Gekennzeichnet sind sie durch entsprechende Attribute (dicker Bauch, Zigarre, Zylinder, Monokel etc.).

Irritierend bleibt die in schwarz-weiß angedeutete Farbenfolge der Flagge: Man vermutet „schwarz-rot-gold“, was so gar nicht passen mag, weil die Farben des Deutschen Reiches ja „schwarz-weiß-rot“ waren, die aber hier offenkundig nicht abgebildet sind. Ganz klären ließ sich die Frage nach dem Warum nicht. Hinweise sind herzlich willkommen, auch falls sich an anderer Stelle ein Fehler eingeschlichen haben sollte.

Bekanntermaßen steht „Schwarz-Rot-Gold“ eigentlich für die demokratischen Traditionen der deutschen Geschichte. Deshalb irritiert die Fahne in dieser Karikatur. Zunächst haben wir überprüft, ob es im Bereich der deutschen Kolonialflaggen vielleicht eine besondere Farbkombination gab, die im Bild wiedergegeben sein könnte. Dem ist aber nicht so. Alle deutschen Kolonialflaggen basierten auf den Farben der Reichsfahne (siehe die umfangreiche Übersicht in der Wikipedia).

Ein Hinweis zur Deutung der vermutlich „schwarz-rot-goldenen“ Flagge fand sich dann doch, gleichfalls in der Wikipedia:

„Interessant ist die Tatsache, dass einige rechtsextreme Gruppierungen und Parteien die Farben Schwarz-Rot-Gold als Ausdruck ihrer „nationalen Opposition“ wählten. So hieß es in den „Leitzielen“ der im Jahr 1900 aus der Spaltung der Deutsch-Sozialen Reformpartei hervorgegangenen antisemitischen Gruppierung gleichen Namens: „Wir brauchen ein deutsches Zentrum, eine deutsch-soziale Reformpartei. Ihr Banner sei schwarz-gold-rot, die Fahne des geeinten Großdeutschlands (österreichisch schwarz-gold und deutsch schwarz-weiß-rot vereinigt)“.

[…]  Insgesamt sah das gesamte „großdeutsche Lager“ in Schwarz-Rot-Gold den Ausdruck der eigenen politischen Zielsetzung. Neben den antisemitischen Parteien gehörten dazu vor allem auch die Linksliberalen in Bayern, Baden und Württemberg.

Die Farben Schwarz-Rot-Gold spielten auch eine nicht unbedeutende Rolle in der Völkischen Bewegung. Grundsätzlich bestand dort die Tendenz, die Farben der alten Nationalbewegung zu übernehmen und für die eigenen Zwecke anzupassen.“

Ich muss zugeben, das war mir bislang völlig unbekannt, aber die Erklärung für das Nutzen der Farben scheint schlüssig und sie liefert einen Hinweis für das Verständnis der Karikatur: Bringt man nämlich völkische Bewegung und Imperialismus zusammen, landet man schnell beim Alldeutschen Verband (ADV), dessen Position in der Karikatur vermutlich kritisiert werden soll. Und tatsächlich finden sich auch für das Jahr 1906, wenn zeitlich etwas später belegt, Aussagen des damaligen Vorsitzenden, die sehr gut zur Bildunterschrift der Karikatur passen (vgl. PDF, S. 3).

Für eine abschließende Klärung müssten noch weitere Informationen hinzugezogen werden. Eine kursorische Durchsicht des Wahren Jacob, ob z.B. die schwarz-rot-goldene Flagge in anderem Zusammenhang eindeutig mit dem Alldeutschen Verband in Verbindung gebracht wird, blieb erfolglos. Ggf. wären auch optische Ähnlichkeiten mit zwischen dem Führungspersonal des ADV und den abgebildeten Personen zu prüfen.

Auch wenn wir die Karikatur nicht zweifelsfrei entschlüsseln konnten, stehen für mich am Ende der Recherche drei Erkenntnisse:

1) Die schnellen und vergleichsweise effektiven Möglichkeiten im Internet eigene Hypothesen zu prüfen, indem man gemeinsam arbeitet und unterschiedliche Suchstrategien miteinander verbindet. Auch wenn keine Einordnung oder Darstellung vorliegt, lassen sich auf diese Weise unbekannte historische Bilder entschlüsseln, vielleicht nicht immer eindeutig, aber zumindest weitgehend.

2) Vor 20 Jahren, im ausgehenden Zeitalter der Zettelkästen, hätte es viel Erfahrung und Wissen benötigt, um diese Operationen zum Entschlüsseln einer unbekannten Karikatur durchzuführen. Wo hätte man die Biographien und ggf. Porträts von Kolonialbeamten nachschlagen können, deren Namen man nicht einmal kennt, sondern nur deren Funktionen? Wo wäre eine Übersicht der Kolonialflaggen verfügbar gewesen? Damals eher eine Arbeit für ausgebildete Historiker, für Studierende schon schwierig, für Schüler unmöglich.

Die beschriebene Vorgehensweise zeigt, wie wichtig es ist, angesichts der vielen und schnell verfügbaren Informationen, selbst Fragen formulieren und Hypothesen aufstellen zu können, um diese dann zu prüfen. Diese „detektivische“ Spurensuche kann Spaß machen, muss aber systematisch angeleitet und gelernt werden. Einfach mal im Internet suchen als Auftrag im Unterricht reicht nicht aus.

3) Die Erfahrung, die vermutlich viele Schülerinnen und Schüler im Geschichtsunterricht machen, wenn sie vor einer Karikatur sitzen und weder die Personen noch die Symbole (er)kennen. Wir Geschichtslehrer „lesen“ und deuten die Karikaturen, weil wir Symbole und Personen wiedererkennen. Es ist für angehende und im Beruf stehende Lehrkräfte eine hilfreiche Erfahrung, mindestens einmal vor einer Karikatur gesessen zu haben, die sie auch nach ihrem Studium nicht verstehen. Das ist vergleichbar mit der Vorgabe, dass wer Deutsch als Fremdsprache lernt, in seinem Studium auch eine Sprache mit nicht-lateinischen Schriftzeichen erlernen muss, um die Schwierigkeiten der Lernenden besser nachvollziehen zu können.

Zum Verstehen von Karikaturen braucht es letztlich eine große „Bilderdatenbank“ im Kopf, die zum Vergleich mit den Elementen, Symbolen und Personen einer Zeichnung abgerufen werden kann. Ähnliches gilt für Anspielungen auf Religion, Mythologie und Redewendungen, die vielen Schülerinnen und Schülern völlig unbekannt sind. Das ist ein Grund, warum Karikaturen im Unterricht für Lernende so unglaublich schwierig sind. Was spräche dagegen statt nur sehr einfache Karikaturen auszuwählen oder Frustrationen aufzubauen, den Schwerpunkt ein wenig zu verschieben und mit den Schülerinnen und Schüler das Internet zu nutzen, um Recherche- und Vergleichsstrategien zur Entschlüsselung historischer Bilder zu entwickeln und einzuüben?

Literatur- und Materialhinweise zur Beitragsserie: Arbeiterbewegung und Erster Weltkrieg

Literaturauswahl

BLÄNSDORF, A., Die Zweite Internationale und der Krieg. Die Diskussion über die internationale Zusammenarbeit der sozialistischen Parteien, Stuttgart 1979.

DONGEN, B. van, Revolutie of integratie. De Sociaal Democratische Arbeiders Partij in Nederland tijdens de Eerste Wereldoorlog, Amsterdam 1992.

GEURTSEN, T., Een geschiedenis van verloren illusies. Socialdemocratie in Nederland, Amsterdam 1994.

GRASS, M., Friedensaktivität und Neutralität. Die skandinavische Sozialdemokratie und die neutrale Zusammenarbeit im Krieg. August 1914 bis Februar 1917, 1975.

HAEGENDOREN, M. van, Le parti socialiste belge de 1914 à 1940, Brüssel 1995.

HAUPT, G., Der Kongreß fand nicht statt. Die sozialistische Internationale 1914, Wien 1967 (erweitert. engl. Aufl.: Socialism and the great war. The Collapse of the Second International, Oxford 1972).

LADEMACHER, H., (Hrsg.), Die Zimmerwalder Bewegung. Protokolle und Konferenzen, 2 Bde., 1967.

LIEBMAN, M., Les socialistes belges – Le P.O.B. face à la guerre, Brüssel 1986.

———-, Les socialistes belges 1885-1914. La révolte et l’organisation, Brüssel 1979.

LIGT, B. de, Vrede als daad. Beginselen, geschiedenis en strijdmethoden van de direkte aktie tegen de oorlog, Arnheim 1931.

MEYNELL, H., The Stockholm Conference of 1917, in : International Review for Social History 5 (1960), S. 1-25, 202-225.

MILLER, S., Burgfrieden und Klassenkampf. Die deutsche Sozialdemokratie im 1. Weltkrieg, Düsseldorf 1974.

MOMMEN, A., De Belgische werkliedenpartij. Ontstaan en ontwikkeling van het reformistisch socialisme (1880-1914), Gent 1980.

RIEMENS, M. J., Een vergeten hoofdstuk. De Nederlandsche Anti-Oorlog Raad en het Nederlands pacifisme tijdens de Eerste Wereldoorlog, Groningen 1995.

RITTER, G. A. (Hrsg.), Die Zweite Internationale 1918/1919. Protokolle, Memoranden, Berichte und Korrespondenzen, 2 Bde., Berlin 1980.

STILLIG, J., Die russische Februarrevolution 1917 und die sozialistische Friedenspolitik, 1977.

TROELSTRA, P.J., Gedenkschriften, 4 Bde., Amsterdam 1931.

UNFRIED, B. u.a. (Hrsg.), Transnationale Netzwerke im 20. Jahrhundert. Historische Erkundungen zu Ideen und Praktiken, Individuen und Organisationen, Leipzig 2008.

VANDERVELDE, E., La Belgique envahie et le socialisme international, Paris 1917.

Online-Material für den Unterricht

Quellen zur Entwicklung der Sozialistischen Internationalen (1907-1919): http://library.fes.de/si-online/index.html

Protokolle der Sozialdemokratischen Parteitage (1910-1919): http://library.fes.de/parteitage/index-pt-1910.html

Chronik der deutschen Sozialdemokratie: http://library.fes.de/fulltext/bibliothek/chronik/

Fotos Library of Congress „Women’s Peace Parade 1914

The Guardian –  Foto: Friedensdemonstration Trafalgar Square in London: http://www.theguardian.com/commentisfree/2012/dec/10/history-curriculum

Britische Propagandaschrift „Belgian Miners Form Living Shield for Germans“ (leider ohne weitere Angaben) http://stahlgewitter.files.wordpress.com/2011/02/propaganda_21.jpg

Deutsche Propaganda Bildpostkarte von 1914 „Der Kaiser rief und alle kamen“ http://www.bildpostkarten.uni-osnabrueck.de/displayimage.php?album=87&pos=22

In die Zukunft gedacht. Bilder und Dokumente zur deutschen Sozialgeschichte: Wilhelm II. und der Erste Weltkrieg (1890-1918) https://www.in-die-zukunft-gedacht.de/de/page/68/epoche/130/epochen.html

Aspekte der europäischen Arbeiterbewegung im Ersten Weltkrieg – Teil 2

[Erster Teil]

Um die Bedeutung dieses Bruchs zu erklären und zu veranschaulichen, wird exemplarisch die weitere Entwicklung für die Arbeiterparteien im von Deutschland völkerrechtswidrig angegriffenen Belgien sowie in den im Ersten Weltkrieg neutral gebliebenen Niederlanden vergleichend in den Blick genommen.

Am 4.8. wurden in Belgien die Kriegskredite im Parlament beschlossen, auch mit den Stimmen der Abgeordneten der belgischen Arbeiterpartei gebilligt. Die Zustimmung hatte Parteirat schon am 2. August in Erwartung eines deutschen Angriffs beschlossen. Am selben Tag wurde die belgische Arbeiterpartei das Kabinett aufgenommen und übernahm Regierungsverantwortung. Dem patriotischen Kurs der Landesverteidigung folgten auch die Vertreter des linken Flügels. Noch am Abend der Parlamentsabstimmung tagte der Parteirat erneut und bekundete einstimmig den Willen, den Deutschen Widerstand zu leisten.

Noch im Herbst 1914 argumentierte Emile Vandervelde, belgischer Sozialdemokrat und Vorsitzender der 2. Internationalen, ab 1917 dann Kriegsminister in Belgien, die SPD habe nicht die Wahrheit über Kriegsausbruch erfahren; sie gehe davon aus, dass Deutschland einen Verteidigungskrieg führe. So lautete auch die Begründung der SPD zur Abstimmung für die Kriegskredite: Es gehe um die Verteidigung gegen das reaktionäre, zaristisches Russland. Vandervelde war überzeugt, dass, wenn die deutsche Arbeiterführung erführe, wie barbarisch das deutsche Militär in Belgien wütete, würden sie sich der Front der Entente-Sozialisten einreihen und gleichfalls den Kampf gegen den Militarismus in Deutschland aufnehmen.

Am 6. September veröffentlichten die belgischen und französischen Sozialisten ein gemeinsames Manifest, das Vandervelde der SPD in aller Form im Auftrag des Exekutivkomitees des ISB zukommen ließ. SPD sah Manifest als Versuch parteiinterne Opposition zu wecken und antwortete mit einem öffentlichen Protestschreiben, da sie das ISB für Propagandazwecke der Belgier missbraucht sah.

In der ersten Septemberhälfte reiste Karl Liebknecht nach Belgien, wo er im Juli schon einmal gewesen war, und worauf er dann zunächst einziger gegen die Kriegskredite stimmte und sich ob der geschilderten Kriegsverbrechen von deutscher Seite innerhalb der Partei gegen den Vorwurf des Vaterlandsverrats wehren musste.

Ihm folgten Adolf Köster und Gustav Noske, der später als erster Reichswehrminister der Weimarer Republik im Kabinett Scheidemann bei der Niederschlagung von Streiks und kommunistischen Aufständen eng mit der Armeeführung und den Freikorps zusammenarbeitete, als Berichterstatter für die sozialistische Presse in Deutschland. In Belgien hinterließen sie den Eindruck eines engstirnigen Nationalismus auf Seiten der deutschen Sozialdemokratie. In einem veröffentlichten Bericht schrieben Noske und Köster ohne Kritik und voller Anerkennung über die deutsche Kriegsführung und Besatzungspolitik in Belgien 1914 und rechtfertigten das brutale Vorgehen der deutschen Armee als Kriegsnotwendigkeit.

Fortsetzung: Teil 3

Das Scheitern von Internationalismus und Pazifismus der europäischen Arbeiterbewegung zu Beginn des Ersten Weltkriegs – Teil 1

Das nachfolgende Thema scheint mir aus mehreren Gründen wichtig. In den Schulgeschichtsbüchern findet sich weit verbreitet das „August“-Erlebnis und die Kriegsbegeisterung. Über die Friedensdemonstrationen, über abweichendes Verhalten findet sich nichts. 

In den Jahren vor dem Krieg und besonders im Sommer 1914 fanden in ganz Europa Friedensdemonstrationen in den großen europäischen Städten statt, die wesentlich von der Arbeiterbewegung getragen wurden und letztlich nicht erfolgreich waren. Aus diesem Scheitern lässt sich lernen für die Gegenwart: Die gleiche Zuversicht mit Demonstrationen einen Krieg verhindern zu können, prägt die Einstellung eines Teils heutiger Schülerinnen und Schüler.

Deshalb ist es wichtig, beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs nicht nur über die Kriegsbegeisterung zu sprechen, sonst kann sich bei den Lernenden schnell das Gefühl einer Überlegenheit als Nachgeborene, aufbauend auf der Idee, dass wir heute klüger wären, einstellen.

In einer kleinen Reihe von in loser Folge veröffentlichten Beiträgen sollen einige Aspekte der Arbeiter- und Friedensbewegung zu Beginn und während des Ersten Weltkriegs dargestellt werden, die als Anregung für den Unterricht dienen können. Am Ende wird die Artikelreihe durch eine kleine Literaturauswahl mit Lesetipps ergänzt. Der Fokus liegt inhaltlich auf Deutschland, Belgien und den Niederlanden, weil sich an diese drei Ländern, die in unterschiedlicher Weise in den Krieg involviert waren, bei den Arbeiterparteien beispielhaft unterschiedliche Haltungen und Reaktionen auf die Geschehnisse aufzeigen lassen.

Der Pazifismus als Grundorientierung der Arbeiterparteien war Thema auf allen Kongressen der 2. Internationale: Krieg wurde als Geißel des Kapitalismus gebrandmarkt und es herrschte die Überzeugung, dass die Bewahrung des Friedens schicksalhaft mit der Entwicklung des Sozialismus als seinem einzigen Verteidigers verknüpft war.

Nach den Friedensdemonstrationen 1911 und 1912 während der Balkankrise war die europäische Arbeiterbewegung überzeugt, den Ausbruch eines Krieges verhindert zu haben. Es herrschte in der Arbeiterschaft eine Atmosphäre von Optimismus und Selbstvertrauen. Im Juli 1914 war man sich des Ernstes der Lage deshalb zunächst gar nicht bewusst. Die meisten Führer der Arbeiterparteien fuhren wie gewohnt in den Sommerurlaub. Reaktionen erfolgten erst am 27.7. nach dem Zurückweisen des englischen Vermittlungsangebots durch Deutschland.

Zwei Tage später folgte die letzte Sitzung des Internationalen Sozialistischen Büros (ISB) in Brüssel, die weiterhin von Optimismus geprägt war, der in der Forschung sehr unterschiedlich gewertet wird: Haupt sieht einen Optimismus, dass Krise bald wieder vorübergeht; dagegen argumentiert Blänsdorf, dass der gezeigte Optimismus nur Deckmantel für ein Gefühl der eigenen Ohnmacht gewesen sei.

Zu unterscheiden ist zwischen öffentlichen Bekenntnissen zu sozialistischen Solidarität und dem praktischen Verhalten der Politiker. Zum Verständnis der Frage nach den Ursachen der Handlungsunfähigkeit der 2. Internationalen ist eine Analyse der Vorkriegsperiode notwendig: Die Geisteshaltung des godsvrede, Burgfriedens bzw. der union sacrée war schon auf letzter Sitzung des ISB vorhanden. Französische und deutsche Delegierte trugen unterschiedliche Ansichten über Frage vor, wer Verantwortung für die aktuelle internationale Krise trage und folglich wer sie für einen eventuellen Krieg trüge. Dies bedeutet letztlich den Zusammenbruch der internationalen Solidarität der Arbeiterbewegung, eine Kapitulation der 2. Internationalen angesichts einer internationalen Krisensituation von bislang unbekannter Größe und Dynamik. Trotz alledem überlebte der organisatorische Apparat der Internationalen den Krieg.

Fortsetzung: Teil 2