„Das Ziel des Projekts war, ein Verfahren zu entwickeln, mit dessen Hilfe historische Narrationen auf ihren Umgang mit Vergangenheit und Geschichte hin untersucht werden können.“ (S. 9)
Das vorliegende Buch bietet mehr als aus dem Titel zunächst deutlich wird. Das aus der Schulbuchanalyse gewonnene Verfahren wurde erprobt in seiner Anwendbarkeit auf u.a. Zeitzeugengespräche, Ausstellungen und Filme. Das erarbeitete Analyseraster steht auf der Homepage der Geschichtsdidaktik an der Universität Eichstätt als doc-Datei zum Download zur Verfügung.
Mich hat an dem Buch besonders ein Beitrag interessiert, der ganz am Ende steht. Auf der Tagung zur „Nutzung digitaler Medien im Geschichtsunterricht“ in Salzburg hat Waltraud Schreiber das mbook-Projekt vorgestellt. In Eichstätt ist mit dem mbook ein digitales Geschichtsbuch entwickelt worden, über das sich bislang wenig Informationen im Netz finden und das seit diesem Schuljahr in der deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien eingesetzt wird.
Die Eichstätter Forschergruppe sieht in der Diskussion um das Schulbuch der Zukunft zwei grundlegende Positionen, die sie als „digitale Bausteinlösung“ bzw. als Festhalten am „hergebrachten, gedruckten Leitmedium Schulbuch“ beschreiben. Die Entwicklung des mbook für die DG basiert auf den Schulbuchanalysen und soll eine Kombination beider Positionen bieten durch ein Beibehalten der Strukturierungskriterien des Printmediums plus die digitalen Möglichkeiten von Multimedialität, Interaktion und Aktualisierung.
Als Grundlage für die Entwicklung des mbooks dienten ein „narratives Geschichtsverständnis“, eine „die Progression beachtende Förderung der Kompetenzentwicklung“, deren Diagnose sowie eine Berücksichtigung der Möglichkeiten von Differenzierung und Individualisierung. Die Autoren schreiben ihrer hauseigenen Entwicklung dabei das Potential zu, als „Katalysator für einen kompetenzorientierten Geschichtsunterricht“ (216) zu wirken. Große Worte sind das.
Die Vorteile des mbooks liegen auf jeden Fall in seiner system- und plattformunabhängigen Nutzbarkeit. Programmiert ist es auf der Basis von HTML5. Wobei es – meines Wissens – leider zur Zeit weiterhin nicht frei zugänglich, käuflich oder einsehbar ist. Das macht die Beurteilung schwierig, inwieweit die Umsetzung gelungen ist. Auch die Vorstellung einiger Ausschnitte auf der oben genannten Tagung ist für eine Gesamtbeurteilung nicht ausreichend. Gerne würde ich einen größeren Einblick gewinnen und nach dem, was ich gehört habe, ist das Produkt bei den Kollegen in Belgien sehr gut aufgenommen worden. Nach meinem ersten Eindruck nutzt das Projekt allerdings die Möglichkeiten des Digitalen nur in Form von multimedialer und interaktiver Aufbereitung der Inhalte, im Sinne einer „Optimierung“ der Lehr- und Lernmaterialien, berücksichtigt aber in seiner Konzeption nicht – soweit für mich einsehbar – das, was u.a. zuletzt auf der und im Anschluss an die Tagung in München unter „Lernen unter den Bedingungen der Digitalität“ diskutiert wurde.
Ein Punkt sollte noch Erwähnung finden, der im Buchbeitrag nicht aufgegriffen wird: Für die relativ kleine (ca. 70.000 Einwohner mit 9 Sekundarschulen) deutschsprachige Gemeinschaft gab es bislang keine eigenen Schulgeschichtsbücher, aber neu erstellt einen kompetenzorientierten Rahmenplan der Klassen 9-12 für das Fach Geschichte (DOC-Datei).
Die Entwicklung des mbooks wurde in ein „akademisches Spin-off“ ausgelagert, das Institut für digitales Lernen, das finanziert und beauftragt durch die Deutschsprachige Gemeinschaft das digitale Geschichtsbuch erarbeitet. Hier entsteht also ein Schulbuch, das vom Staat in Auftrag gegeben und bezahlt wurde. Das gibt es bislang in Deutschland. Soweit ich weiß, steht das Buch den belgischen Schülern und Lehrern dadurch kostenlos zur Verfügung, aber keineswegs offen als OER.
Das Zusammengehen von staatlicher Finanzierung von Lehr- und Lernmaterialien und ihre Öffnung bzw. Bereitstellung als OER ist offenkundig anders als vielfach zu lesen keineswegs zwangsläufig, vielmehr hat das Eichstätter Institut offensichtlich ein Interesse daran, ihr Produkt geschlossen zu halten: zum Zwecke der Forschung, Weiterentwicklung, der Deutungshoheit in der Darstellung und wohl vor allem der kommerziellen Verwertung ihres Produkts. Schreiber hat in ihrem Vortrag angedeutet, dass sie in Gesprächen mit deutschen Bildungsministerien steht. Was für die deutschsprachige Gemeinschaft noch vorstellbar ist, bei deren Größe es nicht rentabel war, eigene Schulbücher auf den Markt zu bringen, erzeugt bei mir spontanes Unbehagen, wenn ich an eine Ausdehnung des Projekts denke. Das mbook ist außerhalb martkwirtschaftlicher Konkurrenz entstanden, wurde vom Ministerium beauftragt, finanziert und ist nun alternativlos als Hauptmedium des Unterrichts vorgegeben. Man möge mich korrigieren, wenn ich hier falsch liege, aber mir scheint, das Entstehen einer Monokultur zu befürchten, die zumindest meinen Vorstellungen eines pluralistischen Bildungsystems widerspricht.
Waltraud Schreiber, Alexander Schöner, Florian Sochatzy, Analyse von Schulbüchern als Grundlage empirischer Geschichtsdidaktik, Stuttgart: Kohlhammer 2013.