In deutschen Schulbüchern steht lediglich…

In deutschen Schulbüchern steht lediglich, dass die Wehrmacht 1941 einmarschiert ist, gelegentlich, dass sie Ende 1944 wieder abzog. Was die Deutschen dazwischen machten, bleibt der Fantasie überlassen. Vielleicht haben sie nur in der Ägäis gebadet…

Zitat: http://taz.de/Historiker-ueber-Wehrmachtsmassaker/!121894/

Die Aussage von Hagen Fleischer ist mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Eine ähnliche Beobachtung habe ich während eines Norwegen-Urlaubs gemacht. Norwegen war bis dato für mich im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg kaum relevant gewesen. Dazu fielen mir vor dem Urlaub Schlagwörter wie „Lebensborn“ oder das Exil von Brandt ein, aber ansonsten hatte ich im Kopf eher das Bild einer „friedlichen“ Besetzung.

Bei der Fahrt gen Norden, die norwegische Küste hoch, belehrte mich aber dann der Reiseführer und die Stadtbilder eines besseren: Spätestens ab dem Polarkreis finden sich kaum noch alte Häuser und es hieß fast überall: Die Stadt wurde von den Deutschen während des Zweiten Weltkriegs weitgehend zerstört. In jeder zweiten Stadt finden sich Erinnerungsorte an den norwegischen Widerstand. Auch von dem Zwangsevakuierungs- und Vernichtungsbefehl für Nordnorwegen von Ende Oktober 1944 hatte ich bis dato nichts gehört:

Am 28. Oktober 1944 kam direkt von Adolf Hitler der Befehl zur Evakuierung der Zivilbevölkerung und Anwendung der Taktik der verbrannten Erde: „Die Vernichtung“. Das sollte durchgeführt werden „….rücksichtslos. Mitleid mit der Bevölkerung ist nicht am Platz“. Im Winter 1944/45 entstand die Todeszone von Tana bis zur Lyngenlinie. In einer versengten Landschaft standen nur noch Ruinen. Als der Frieden kam, waren 75000 Menschen Flüchtlinge im eigenen Land. (Zitat PDF aus der deutschsprachigen Info des „Wiederaufbaumuseums“ (!) in Hammerfest)

Die Konsequenzen des Evakuierungsbefehls waren fatal. An den meisten Orten wurde er mit der befohlenen Härte und Gründlichkeit durchgeführt und bewirkte die größte Wanderbewegung und die umfassendsten Zerstörungen auf norwegischem Boden. Militärische Abteilungen zogen von Ort zu Ort, von Gehöft zu Gehöft und trieben die Menschen aus ihren Häusern, die Kranken aus den Hospitälern, das Vieh aus den Ställen. […] Die Gebäude wurden in der Regel nach kurzer Frist in Brand gesetzt, das Vieh zum Teil an Ort und Stelle geschlachtet, zum Teil auch mitverbrannt, zum Teil auf die Reise mitgenommen. (Zitat)

Was steht davon in den Schulgeschichtsbüchern? Alle nachfolgenden Zitate sind den jeweiligen Ausgaben für Rheinland-Pfalz entnommen:

„Bevor das Deutsche Reich seine Offensive im Westen eröffnete, besetzte die Wehrmacht Dänemark und Norwegen, um die Nordflanke sowie die für die Kriegführung notwendige Versorgung mit Erzen abzusichern.“ (Kursbuch Geschichte. Neue Ausgabe, Cornelsen, S. 449)

„Nach der Eroberung Polens verlagerte sich der Krieg nach Nord- und Westeuropa. Um die Versorgung mit Erz aus Schwerden und Nickel aus Finnland zu sichern, besetzten deutsche Truppen Dänemark und unter hohen Verlusten Norwegen.“ (Geschichte und Geschehen 4, Klett, S. 94)

„Auf den raschen Sieg über Polen folgte die kampflose Besetzung Dänemarks (April 1940) und die Eroberung Norwegens (April bis Juni 1940). Hitler und die Generalität sicherten sich damit im Wettlauf mit Großbritannien den Weg zum schwedischen Erz, das für die Rüstungsindustrie wichtig war.“ (Das waren Zeiten 4, Buchner, S. 84)

Ich habe keine Kürzungen vorgenommen, sondern alles zitiert, was sich in den jeweiligen Büchern zum Krieg in Norwegen fand. Angesichts des beschränkten Umfangs eines Schulbuchs sind die Informationen notwendigerweise knapp. Die Darstellungen sind nichtsdestotrotz sehr unterschiedlich. Alle betonen die „Kriegsnotwendigkeit“ der Besetzung und reproduzieren damit argumentativ die Kriegs-„Logik“ des NS-Regimes, nur das Klett-Buch weist auf die „hohen Verluste“ der deutschen (!) Truppen bei der Einnahme Norwegens hin. Trotz der Kürze stellt sich die Frage, ob die Darstellungen nicht anders aussehen könnten, ja sogar müssten.

Fleischer macht in dem taz-Interview ein Deutungsangebot für die offenkundig unterschiedliche Präsenz der deutschen Verbrechen in der Geschichts- und Erinnerungskultur:

Die Massaker im tschechischen Lidice und im französischen Oradour haben einen Platz im kollektiven Gedächtnis, weil sie zum mittel- und westeuropäischen Kulturkreis zählen. Ganz Griechenland, die 100 griechischen Lidices, ist jedoch ein weißer Fleck auf der Europakarte des NS-Terrors. (taz-Interview)

Das trifft sicher einen zentralen Punkt, was sich auch in der Darstellung dieser Verbrechen in Geschichts- oder auch Französischbüchern (für die Oberstufe) widerspiegelt. Aber noch einmal zurück zum Ausgangspunkt: Wie sieht es mit der Darstellung des griechischen Kriegsschauplatzes in aktuellen Schulgeschichtsbüchern aus? Ein schneller, exemplarischer Durchblick weniger Bücher mit Hilfe des Registers:

Fehlanzeige (Buchners Kompendium Geschichte, 2008)

„Um die italienischen Kriegsziele in Nordafrika und im Mittelmeer zu unterstützen, besetzten deutschen Truppen Jugoslawien und Griechenland; ein „Afrikakorps“ setzte nach Tunesien und Libyen über.“ (Kursbuch Geschichte. Neue Ausgabe Rheinland-Pfalz, Cornelsen 2009, S. 450).

Fehlanzeige (Geschichte und Geschehen. Neuzeit. Sekundarstufe II, Klett 2005)

„Italien griff im September 1940 Ägypten und Griechenland an. Die italienischen Misserfolge zwangen Deutschland, auf dem Balkan einzugreifen. Im April 1941 wurden Jugoslawien und Griechenland besetzt.“ (Histoire/Geschichte. Europa und die Welt vom Wiener Kongress bis 1945, Nathan/Klett, S. 306).

Es sieht also zumindest bei einem Teil der Schulgeschichtsbücher für die Oberstufe (!) noch dürftiger aus, als von Fleischer im taz-Interview angenommen. Angesichts von bereits umfangreichen Schulbüchern und weniger werdenden Geschichtsstunden ist es klar, dass die Forderung nicht sein kann, die Schulbuchtexte ausführlicher zu machen und die entsprechenden Informationen zu ergänzen. Eine Lösung habe ich auch nicht. Ich denke aber, wir brauchen eine Diskussion darüber, wie die entsprechenden Kapitel neu formuliert werden können und wie die entsprechenden Vorgaben in den Lehrplänen aussehen müssen, um die europäische Dimension der deutschen Kriegsverbrechen in angemessener Weise darzustellen und zu reflektieren und damit über den Geschichtsunterricht einen zentralen Beitrag zu leisten, die Gegenwart besser zu verstehen.

#OER in Norwegen – ein interessanter Blick über den Tellerrand

Vor ein paar Tagen hatte ich im Blog von Leonardo Quintero folgendes gelesen:

Die staatlichen Behörden Norwegens haben sich offensichtlich vor einiger Zeit direkt an die Autorinnen und Autoren von Unterrichtsmaterial gewandt und diese gefragt, ob sie nicht bereit wären, für das doppelte Gehalt lizenzfreie (gemeinfreie?) Unterrichtsmaterialien für die staatlichen Schulen zu erstellen. Das gute an diesem Ansatz ist erstens: es musste kein einziges Gesetz bezüglich des Urheberrechts geändert werden und zweitens musste kein einziger Verlag angeschrieben werden, in wie weit eine digitale Mediennutzung seiner Materialien erlaubt sei.

Auch wenn Damian Duchamps in einem Kommentar dort sicher nicht zu unrecht darauf hinweist, dass eine vergleichbare Initiative in Deutschland zur Zeit vermutlich (noch?) wenig Aussichten auf Erfolg hätte, klang der Ansatz beispielhaft und ich wollte mehr darüber erfahren. Also habe ich ein paar norwegische Kollegen angeschrieben. Das Resultat ist bislang bescheiden, aber nicht uninteressant.

Da ich selbst kein Norwegisch kann, die Seiten aber nur auf Norwegisch verfügbar sind, habe ich den Google Translator genutzt und verlinke das auch entsprechend hier. Wer selbst Norwegisch lesen kann, kann den Übersetzer ja wegklicken.

Zum einen wiesen mich die Kollegen auf ein Ning-Lehrernetzwerk (d&b) hin, dass u.a. auch ein Wiki und eine Social Bookmarking-Gruppe bei Diigo nutzt. Der Aufbau und die Kombination der Werkzeuge ist nicht uninteressant, aber letztlich vergleich den Lehrerportalen, die wir im deutschsprachigen zum Austausch von Materialien auch haben. Zur Entstehung des Portals und zur Lizenzierung der Materialien habe ich auf Anhieb nichts gefunden.

Der Hinweis aus dem Blogzitat bezog sich vermutlich auf den zweiten Link, den mir die Kollegen aus Norwegen geschickt haben: NDLA – Digitale Lernmaterialien für die Sekundarstufe (so die Google-Übersetzung).

Ich muss ja nicht alles aufschreiben, was man woanders nachlesen kann: Zur Entstehungsgeschichte und den Hintergründen des Portals finden sich Informationen in der norwegischen Wikipedia (Die Nynorsk-Version ist hier verlinkt und bietet etwas mehr Informationen als in Bokmål).

Hier wurde tatsächlich durch den Staat, finanziert durch Bildungsministerium und getragen von regionalen und lokalen Behörden, ein Portal für digitale CC-lizenzierte Unterrichtsmaterialien geschaffen, und das bereits seit 2007! Wenn ich das richtig verstanden haben, dann haben Schüler der weiterführenden Schulen seitdem ein gesetzlich garantiertes Anrecht auf kostenlose Unterrichtsmaterialien in Norwegen. Statt den Weg über eine staatliche Finanzierung Schulbuchausleihe hat man sich damals wohl dann für den Aufbau eines entsprechenden Online-Portals entschieden.

In beiden Wikipedia-Einträgen wird deutlich auf die Probleme und Kritik an dem Projekt, natürlich besonders von Seiten der (norwegischen) Schulbuchverlage hingewiesen. Kritik kommt aber auch von den Lehrerverbänden, die am Ende der Entwicklung ein staatliches Monopol bei den Lehrmaterialien und eine Vereinheitlichung des Unterrichts fürchten.

Die Situation scheint auf den ersten Blick der deutschen gar nicht so unähnlich, nur dass sich Norwegen bzw. das Bildungsministerium und andere staatliche Einrichtungen schon vergleichsweise früh einen ganz anderen Weg eingeschlagen haben als ihn die deutsche KMK nun zu gehen versucht.

Wie umstritten das Projekt auch in Norwegen ist, zeigen allein schon die Titel der unter dem Wikipedia-Artikel verlinkten Zeitungsartikel (siehe z.B. hier). Der Blick über den deutschen Tellerrand lohnt sich auf jeden Fall, nicht nur für Lehrkräfte.