Arbeiterbewegung und Erster Weltkrieg – Teil 4: Länderübergreifende Kontakte und interne Parteientwicklung im Krieg

Auch während des weiteren Kriegsverlaufs riss die Kommunikation zwischen den Arbeiterparteien in Europa, auch über die Grenzen der kriegsführenden Länder hinaus, nie ganz ab. Einige Wochen nach Kriegsausbruch reisten führende Sozialdemokraten in verschiedene Länder, darunter die Niederlande, Schweden, die Schweiz und Italien, mit der Intention die Position der Partei, aber auch Deutschlands zum Kriegsausbruch aus ihrer eigenen Perspektive darzustellen und gegen vermeintlich falsche alliierte Propaganda und Deutschfeindlichkeit bei den Neutralen richtig zu stellen. Konkreter Anlass für die Reisen war eine sehr emotional vorgetragene heftige Kritik des niederländischen Parteivorsitzenden am deutschen Überfall auf Belgien und am Bruch der belgischen Neutralität gewesen.

Die SPD-Gesandten verlangten von den Genossen in den neutralen Ländern die Zusicherung „voller Neutralität und Unparteilichkeit“. Man kann hier mit einen Versuch massiver Beeinflussung im Zeichen des Burgfriedens sehen, der deutschen Kriegsführung durch die Kontakte der Partei im außenpolitischen Bereich zu helfen. Dagegen versuchte die Linke in der Partei durch Besuchsreisen und Informationsaustausch ein gewissen Gegengewicht zu bilden. Die SPD-Führung unterschätzte dabei die Selbständigkeit und das Selbstverständnis der kleineren neutralen Parteien, deren Gefühl der moralischen Überlegenheit und einer besondere Mission ihre Haltung erheblich gestärkt hatte.

Bei seinem Aufenthalt im September 1914 in Belgien hatte der SPD-Mann Noske Kontakt zu Parteiführung der Arbeiterpartei (POB) in Brüssel aufgenommen und erklärt, dass ihm eine Zusammenarbeit der POB mit den Deutschen nicht missfallen würde. Mit Hilfe des POB könne der deutsche Staat in Belgien die fortschrittliche deutsche Sozialgesetzgebung einführen. Außerdem könne der POB so die Versorgung der sozialistischen Kooperativen sichern. Noske erhielt einen Rausschmiss, den man kaum noch als freundlich bezeichnen kann. Die Antwort der belgischen Genossen verwies darauf, dass eine Verbesserung der sozialen Gesetzgebung wohl kaum Sinn hätte, so lange rund 80% der belgischen Arbeiter ohne Arbeit wären.

Vor allem Flandern befand sich fast vollständig unter Militärkontrolle. Dies führte zu einer Isolation sowohl der Parteigliederungen im besetzten Teil des Landes als auch der Regierung, die nach Le Havre in Frankreich geflohen war. Eine Sonderentwicklung nahmen die Genter Sozialisten unter Edward Anseele, der nach Verhaftung des Genter Bürgermeisters Braun diesen ersetzte. Die Genter Parteigliederung war die einzige, die während des Krieges alles Aktivitäten entfalten konnte. Ihre Zeitung „De Vooruit“ war eine der wenigen gedruckten Zeitungen im besetzten Belgien, wenn auch unter deutscher Zensur. Der Krieg führte in Belgien nichtsdestotrotz zu einer weitgehenden Unterbrechung der Verbindung zwischen Partei und Basis. Hier liegt ein Unterschied zu anderen sozialistischen Parteien, die auf zunehmenden Druck pazifistischer Bewegungen, auch innerhalb der eigenen Partei, reagieren mussten.

Eine weitere Erklärung für die über den Krieg hinaus dauernde unversöhnlich Haltung der belgischen Sozialisten gegenüber Deutschland lag in Deportation zur Zwangsarbeit von belgischen Arbeitern nach Deutschland. Seit Herbst 1916 begannen die Deutschen belgische Arbeitskräfte nach Deutschland zu deportieren: Dies löste Sturm des Protests in allen neutralen Staaten aus. Die belgischen Sozialisten versuchten die Solidarität ihrer internationalen Schwesterparteien zu mobilisieren: Am 19. November 1916 erschien ein Aufruf der Arbeiter im besetzten Belgien an die „Arbeiter der zivilisierten Welt“. Dieser Aufruf endet mit der Frage an die Arbeiter, ob sie dem Unrecht weiterhin tatenlos zu sehen wollten? Auch der Bund Belgischer Arbeiter in den Niederlanden Holland sandte einen Protestaufruf an die Internationale. Die deutsche SPD erklärte sich zwar gegen die Deportationen und die Zwangsarbeit, aber im Kern scheute sie sich vor der öffentlicher Kritik an Maßnahmen, die von OHL und Regierung als kriegsnotwendig gerechtfertigt wurden. Erst im Dezember folgte eine Reaktion auf den öffentlichen Protest: Ebert und Scheidemann wurden erneut nach Den Haag entsandt, wo sie mit der Führung der niederländischen Sozialisten zusammentrafen. Diese legten Belege vor und die SPD-Vertreter versprachen ihr Bestes zu tun, um den Zwangsmaßnahmen ein Ende zu setzen. Das Resümee der Sitzung findet sich in offenem Brief an Vandervelde, deren erster Teil noch in Gegenwart von Ebert und Scheidemann abgefasst war: Die SPD erklärte sich für die Wiederherstellung der belgischen Unabhängigkeit und gegen Deportationen.

Nach Rückkehr nach Deutschland gab es massive Kritik an den Inhalten des Briefs, woraufhin Scheidemann die dort getroffenen Aussagen wieder einschränkte: Die SPD sei bestrebt, alles zu unterlassen, was dem Ansehen der Deutschen Nation im Ausland schaden könnte. Diese Lavieren der deutschen Sozialdemokraten schuf eine unangenehme Situation für alle Sozialisten, die mit den deutschen Genossen zusammenarbeiten wollten, um durch gemeinsame Anstrengungen der internationalen Arbeiterbewegung Veränderungen zu erreichen. Die SPD beförderte sich international selbst ins Abseits, da sie zeigte, dass aufgrund ihrer Loyalität zur deutschen Kriegspolitik eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit ihr nicht möglich war.

Allerdings kam es nach einer Reise Robert Bauers im Januar 1917 nach Belgien doch noch zu einem Protest der Generalkommission der deutschen Gewerkschaften bei Kanzler Bethmann Hollweg sowie bei der OHL. Am 3. März traten dann auch Noske, David und Scheidemann im Hauptausschuss des Reichstags gegen die deutsche Flamenpolitik und die Deportationen auf, letztere waren aber schon im Februar eingestellt worden.

Arbeiterbewegung und Erster Weltkrieg – Teil 3: Blick in die neutralen Niederlande

[Teil 1]                                              [Teil 2]

Im dritten Teil geht der Blick zur Arbeiterbewegung in den Niederlanden. Dies ist im Hinblick auf den schulischen Geschichtsunterricht sicher ein randständiges Thema, trägt aber gerade im Vergleich mit den belgischen, deutschen oder auch französischen Sozialisten zu einem vertieften Verständnis bei. Trotz der Unterschiede der starken Versäulung (verzuiling) der niederländischen Gesellschaft und der formellen Abspaltung des linken Parteiflügels bereits 1909 wies die Ausgangssituation am Beginn des Kriegs für die niederländischen Sozialisten sowohl Ähnlichkeiten mit der deutschen Sozialdemokratie wie mit der Lage in Belgien auf.

Ähnlich wie in Deutschland erzielten die niederländischen Sozialisten in der letzten Wahl vor dem Krieg einen entscheidenen Erfolg. Sie konnten ihre Sitze im Parlament mehr als verdoppeln. Ähnlich wie in Belgien war das Land mit dem Unterschied nicht im Zentrum der deutschen Überlegungen rund um den sogenannten ¨Schlieffen-Plan¨ zu stehen. Zum Schutz der Neutralität stimmten die niederländischen Sozialisten einerseits auch für Mobilisierungskredite, andererseits waren wie die Sozialisten in anderen neutralen Ländern auch bestrebt, ihre Regierungen zu Friedensvermittlung zu drängen. Von der SDAP wurde bereits am 3.8. entsprechender Antrag in Parlament eingebracht. In dieser Forderung trafen sich die niederländischen Sozialisten mit der bürgerlichen Antikriegsbewegung (NAOR).

Am 5.8. erschien ein Artikel in der Zeitung ¨Het Volk¨, in dem erklärt wurde, dass die deutsche Regierung unter dem Vorwand, dass Deutschland von Russland bedroht werde, einen Angriffskrieg gegen Frankreich, Belgien und Luxemburg eröffnet habe. Dass die SPD dies durch die Kreditbewilligung decke und nicht einmal gegen den Einmarsch in Belgien und Luxemburg Protest erhebe, sei unbegreiflich.

Damit verbreitete sich auch in den Niederlanden die Interpretation eines deutschen Angriffskrieges, was in der Folge bedeutete, dass die SPD mit ihrer Zustimmung gegen Grundsätze des Sozialismus und der 2. Internationale verstieß, die nur eine Verteidigung erlaubt hätten. Die Konsequenz der niederländischen Sozialisten war eine Unterstützung der Landesverteidigung und der Außenpolitik der Regierung:

Damit einher ging eine Bejahung des Nationalismus, die verbunden war mit der Hoffnung auf die Einführung des allgemeinen Wahlrechts, dem Hauptziel der Partei aus der Vorkriegszeit.

Der Fraktionsvorsitzende Pieter Jelles Troelstra warnte im Herbst 1914 nachdrücklich vor „verfrühten“ (Teil-) Konferenzen der Sozialistischen Internationalen. Zunächst müsse eine Reorganisation des ISB erfolgen, das Vertrauen zwischen den sozialistischen Parteien der verschiedenen Länder wiederhergestellt werden und erst dann könne die sozialistische Diskussion über Friedensbedingungen beginnen. Die Internationale habe sich vom Krieg, dürfe sich aber jetzt nicht mehr vom Frieden überraschen lassen. Man müsse den Frieden aktiv mitgestalten. Darin sah Troelstra eine doppelte Chance, nämlich sowohl die äußere wie auch die innere Ordnung der Staaten für Nachkriegszeit zu gestalten.

Im Oktober erfolgte die Gründung des nationalen Antikriegs-Rats (Anti-Oorlogs Raad), der sich selbst als bürgerliche Bewegung sah, gegründet aus der Einsicht, dass Friedensbewegung in den Niederlanden zu stark versäult erschien, um effektiv arbeiten zu können. Seine Aufgaben definierte der Rat, damit die Ursachen des Krieges zu studieren und Mittel zur Beendigung des Krieges zu finden. Darüber hinaus sollten Reformen auf nationaler und internationaler Ebene zur Vermeidung zukünftiger Kriege angedacht werden. Einladung zur Teilnahme ging auch an die Leitung der SDAP, die sich daraufhin offiziell an der Arbeit des Rates beteiligte. Diese Beteiligung war allerdings umstritten: Während die Parteiführung Überlegungen anstellte, wie man die Massen für die Idee des Rates begeistern könnte, gab es innerhalb der Partei zugleich massive Kritik am gemäßigten Kurs des NAOR.

Fortsetzung: Teil 4

Hinweis auf zwei Seiten zum Holocaust

Beide Seiten habe ich letzte Woche „entdeckt“ und die in der letzten Woche als Links schon die Runde in den sozialen Netzwerken gemacht haben. Die Links finden sich auch in der Diigo-Gruppe und daher zur Zeit auch noch aktuell hier oben rechts in der Spalte neben dem Text.

Versteckt wie Anne Frank  ist eine Seite, die auf dem Buch Andere achterhuizen beruht und auf einer Karte Verstecke anderer Juden und ihre Fluchtwege in den Niederlanden zeigt. Mit Klick auf die einzelnen Punkten erhält man dann Erzählungen und weitere Informationen zu den 23 dort dokumentierten Geschichten. Über eine Liste der versteckten Personen ist auch ein alphabetischer Zugang über deren Namen möglich.

Die Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt präsentiert Dokumente aus dem letzten Jahr des Bestehens des Ghettos. Kern der Seite bildet die Chronik, die in transkribierten Tagesberichten der jüdischen Ghetto-Verwaltung von August 1943 bis Juli 1944 einen Einblick in den Alltag des Ghettos bietet. Ergänzt werden die Tagesberichte durch gut verständliche Informationen zur Entstehung der Chronik, den Chronisten und dem Ghetto. Außerdem bietet die Seite noch eine Fotosammlung sowie einige der Tagesberichte als Audiopodcast.

Beide Seiten eignen sich hervorragend zum Einsatz im Unterricht, vor allem zur eigenständigen Arbeit der Lernenden.