Praxisbeispiel: Lernarrangement zur (Teil-) Öffnung des Unterrichts

Nachdem ich bereits in Kurzform allgemein Tipps zur Öffnung des Unterrichts zusammengefasst und an anderer Stelle auch theoretische Überlegungen vor allem zur Rolle als Lehrkraft dazu gestreift habe, möchte ich das Ganze nun an einem konkreten Lernarrangement aus der Unterrichtspraxis exemplarisch aufzeigen. Lisa Rosa hat zu Recht, daraufjohnny-automatic-bike-or-motorcycle--800px hingewiesen, dass es hier um vergleichsweise begrenzte Wahlmöglichkeiten geht, die von der Sachlogik des Lehrplans ausgehen und nicht konsequent vom Lernenden. Daher ist der Begriff „Personalisierung“ nur vorsichtig zu gebrauchen, trifft meines Erachtens den Ansatz aber trotzdem besser als Individualisierung oder Differenzierung, wenn auch – graduell gedacht – nur in geringerem Umfang.

„Stoffbereiche“ des Lehrplans

Das Zeitalter der bürgerlichen Revolutionen, Europa zur Zeit Napoleons und Restauration

Teilthemen

Der Lehrplan nennt zu jedem Stoffbereich Inhaltsaspekte, Daten und Begriffe, die ich für die Lernenden in Teilthemen übersetzt habe. Sie konnten zwischen diesen Themen wählen, jedoch auch – sofern im zeitlichen Rahmen der Unterrichtsreihe (ca. 1750-1815) – selbst andere Themen wählen, mit denen sie sich auseinandersetzen wollten. Die Themen sind also als Anregungen und Ideen zu verstehen; die Liste ist aber grundsätzlich offen. Ein Schüler hat z.B. die Abschließung Japans in der Edo-Zeit als Thema für einen Vortrag gewählt. Eine andere Schülerin die Mode des Rokoko (mit Bezug zu Mangas). Falls verpflichtende Themen des Lehrplans nicht gewählt werden, übernehme ich diese und stelle sicher, dass alle verpflichtenden Inhalte im Unterricht aufgegriffen werden. Das war in dieser Unterrichtsreihe allerdings nicht der Fall.

  • England 1688/89 (Glorious Revolution)
  • Korsika 1755
  • USA 1776 (Unabhängigkeitserklärung und Verfassung)
  • Frankreich 1789 Anfang (Gründe, Auslöser und Start der Revolution)
  • Frankreich 1791 (Erste Verfassung, Rolle des Königs)
  • Frankreich 1792-1794 (Bedeutung von Koblenz und Kriegsbeginn)
  • Polnische Teilungen (Polnische Teilungen und Verfassung von 1791)
  • Napoleon (Aufstieg und Wiedereinführung der Monarchie)
  • Napoleon und das Heilige Röm Reich (Österreich, Preußen, Rheinstaaten)
  • Niederlage Napoleons und Neuordnung Europas

Weitere mögliche Einzelthemen: Revolution Haiti, Koblenz zur Zeit der Französischen Revolution, Bau der Festung Ehrenbreitstein, Wiener Kongress, Biographien: Jefferson, Robespierre, Ludwig XVI., Sieyès, Napoleon, Kosciuszko, Metternich.

Nach Wahl und Festlegung der Themen durch die Lernenden habe ich diese in eine Reihenfolge gebracht und mit den Lernenden in der Folgestunde abgesprochen.

Methodische Voraussetzungen

Die Klasse leidet bereits im dritten Jahr unter mir als Geschichtslehrer. Die Schülerinnen und Schüler mussten/durften/konnten bereits alle mindestens eine eigenständigen Vortrag mit medialer Unterstützung halten, eine längere schriftliche Ausarbeitung mit selbst gewählter „Forscherfrage“ erstellen, haben mit dem Flipped Classroom gearbeitet und auch schon kürzere Unterrichtssequenzen in Kleingruppen selbst vorbereitet und gehalten.

Lernprodukte

Die Schülerinnen und Schüler hatten die Wahl allein oder in Gruppen zu arbeiten. Die Erarbeitung – auch die Vorbereitung der Unterrichtsstunden – erfolgte wesentlich im Unterricht – und nur notfalls unterstützend zuhause (z.B. Mitbringen von Materialien, um in der Schule damit arbeiten zu können). Sie konnten als „Lernprodukte“ wählen: im Sinne von LdL eine Unterrichtsstunde vorzubereiten und durchzuführen, eine kleine Ausarbeitung von drei, eine große von zehn Seiten zu verfassen oder einen Vortrag zu halten. Wichtig ist mir für die Ausarbeitungen, dass die Lernenden eine konkrete eigene Fragestellung entwickeln und mit mir absprechen, auf die sie dann in ihrer Ausarbeitung eine Antwort geben. So wird sowohl individuell als auch in Gruppen gearbeitet, die Arbeitsergebnisse und die Inhalte werden jedoch mit den anderen Schülerinnen und Schülern geteilt und diskutiert.

Benotung

Die Unterrichtsstunden der Schülerinnen und Schüler werden nicht benotet, um ihnen Freiraum für die Umsetzung zu geben. Eine Note erhalten die Lernenden für die Mitarbeit im Unterricht ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler (in RLP sogenannte: Epo-Noten). Die übrigen Schülerinnen und Schüler erhalten ergänzend auch auf die Ausarbeitungen bzw. Vorträge Noten. Nur wer sich mit einer großen Ausarbeitung „rauszieht“, bekommt nur dafür eine Note, aber keine mündliche Note und hat auch die Möglichkeit zur Arbeit, sich in der Klasse oder auf den Flur zurückziehen. Einen eigenen Raum für individuelles Arbeiten in der Sekundarstufe I haben wir an der Schule leider nicht.

 

3 Tipps, um den Geschichtsunterricht zu öffnen – sofort!

johnny-automatic-prying-open-crate-800pxWie lässt sich der Geschichtsunterricht öffnen: von der Lehrer- zur Schülerzentrierung, vom Lehren zum Lernen und das im Rahmen der bestehenden Regelschule mit den vorhandenen Lehrplänen, einer Unterrichtstaktung von 45 Minutenstunden und fehlender Infrastruktur für Wlan oder eine 1:1-Geräteausstattung: kurz im Alltag für weiterhin die Mehrzahl der Kolleginnen und Kollegen.

Der Beitrag hat zwei Ausgangspunkte:

1) Die Veröffentlichung der Bertelsmann-Stiftung zu „Chancen der Digitalisierung für individuelle Förderung im Unterricht“, besonders mit der Untersuchung der Praxisbeispiele durch Jöran Muuß-Merholz (PDF), nach deren Lektüre ich auch den dort von Lisa Rosa verwendeten Begriff des personalisierten Lernens vorziehen würde und mir die Frage gestellt habe, was geht auch ohne digitale Medien. Sowie 2) die Frage danach, welche Spielräume die einzelne Lehrkraft hat im Rahmen des Bestehenden die gemeinsame Lernzeit in diesem Sinn anders zu gestalten, ohne vorab ihre Schule als Institution oder Schule als System zu verändern. Natürlich lässt mit entsprechenden strukturellen Veränderungen eine Vereinfachung und Erweiterung offener Lernformen erreichen, aber dafür gilt es dicke Bretter zu bohren; Schulen wandeln sich langsam.

Die folgenden Tipps sind vergleichsweise schnell umzusetzende und einfache Schritte, um über Auswahlmöglichkeiten nicht nur zu differenzieren, zu individualisieren, sondern historisches Lernen in der Schule ansatzweise zu personalisieren (vgl. die tabellarische Gegenüberstellung im PDF), in diesem Sinne zu öffnen, und damit Auseinandersetzung und Engagement zu fördern.

Wir haben es aber jeden Tag mit Kindern und Jugendlichen zu tun,

  • die u.a. direkten Zugang zu Informationen haben, die früher nur in gefilterter Auswahl oder über entsprechende Fachkenntnisse an speziellen Orten zugänglich waren und
  • für die aktiv sein und selber etwas zu tun, zentrale Kriterien für guten Unterricht und damit für gelingendes Lernen sind.

Hier drei Tipps aus der Praxis, die sich auch unter den gegebenen Bedingungen sofort umsetzen lassen:

1 Die Schülerinnen und Schüler können ihre Themen im Geschichtsunterricht selbst wählen.

Dies funktioniert im Rahmen der Lehrplanvorgaben. Die bieten nämlich immer auch Spielräume und nirgendwo steht, wie gelernt soll. Festgelegt werden nur die Ziele (Inhalte und/oder Kompetenzen). Was spricht also dagegen die „Römische Geschichte“ statt im Durchgang durch den Lehrplan oder das Schulbuch je nach Interesse und Neigung aufzuteilen? Während sich die einen mit den Punischen Kriegen beschäftigen, informieren sich die anderen über die römische „Familia“ und wiederum andere analysieren die Res Gestae des Augustus.

Ausgangspunkt kann immer das Schulbuch sein: Hier sind die lehrplanrelevanten Themen altersgemäß aufbereitet, einige Quellen und Darstellung bereits ausgewählt und aufbereitet. Darüber hinaus können natürlich weitere Materialien recherchiert und verwendet werden. Der Einstieg über die Schulbuchseite bringt zudem aber den notwendigen Kontext für eine weiterführende Recherche im Netz. Und wenn sich mal niemand für ein absolut verpflichtendes Unterthema des Lehrplans interessieren sollte, spricht nichts dagegen, als Lehrkraft für ein, zwei Stunden den Unterricht wieder zu übernehmen. Dies bietet sich auch immer wieder zwischendurch für Plenumsphasen zur Orientierung und Vernetzung an.

 

2 Die Schülerinnen und Schüler wählen ihre Lernprodukte selbst.

Die Schülerinnen und Schüler können selbst Unterrichtsstunden (LdL) oder Vorträge halten, schriftliche Ausarbeitung verfassen oder ein Video erstellen. Dabei ist die Beratung durch die Lehrkraft wichtig hinsichtlich der Machbarkeit in einem vorgegebenen Zeitrahmen, der notwendigen Voraussetzungen (Kenntnisse, Fähigkeiten, Verfügbarkeit technischer Geräte usw.) sowie der produktspezifischen Qualitätskriterien (Was macht einen guten Essay, eine gute Unterrichtsstunde, eine gute Filmdokumentation aus?).

Durch die unterschiedlichen Lernprodukte und deren gemeinsame Besprechung im Plenum wird übrigens auch zusätzlich sichergestellt, dass alle Schülerinnen und Schüler alle wesentlichen Inhalte des Lehrplans kennengelernt haben – wenn auch in unterschiedlicher Tiefe. Aufgrund der unterschiedlichen Zugänge, der eigenen Fragen und Schwerpunktsetzungen sowie der unterschiedlichen Lernprodukte können Themen auch doppelt oder dreifach gewählt werden. Dies ermöglicht Vergleich, Vertiefung, Wiederholung und Vernetzung im Plenum.

 

3 Die Aufgaben in Leistungsüberprüfungen und andere Formen der Leistungsbewertung offen gestalten.

Das ergibt sich bei der Bewertung von individuellen Lernprodukten von selbst, ist aber auch z.B. bei Tests möglich. So können die Schülerinnen und Schüler im Rückblick selbst für eine Epoche eine vorgegebene Anzahl von Jahreszahlen und Ereignissen auswählen, die sie für besonders relevant erachten und deren Relevanz sie auch begründen können. Dies kann individuell oder kollaborativ (z.B. über ein Etherpad oder auch in der Schule an der Kreidetafel) erfolgen. Was spricht dagegen – nichts zuletzt angesichts der bislang desaströsen Behaltensleistungen im Fach Geschichte – statt alle Jahreszahlen im Kapitel eines Schulbuchs, nur selbst ausgewählte zu lernen?

In einem Test könnten zwei Aufgaben dann z.B. wie folgt aussehen: a) Nenne 5 Ereignisse der römischen Geschichte mit der entsprechenden Jahreszahl. b) Begründe, warum die 5 von dir ausgewählten Ereignisse jeweils für die römische Geschichte besonders wichtig sind. Alle Schülerinnen und Schüler schreiben zum selben Zeitpunkt denselben Test, aber es gibt nicht einen einheitlichen Erwartungshorizont, sondern eine Vielzahl richtiger Antworten. Die Konzeption der Prüfungsaufgaben passt zur inhaltlichen Öffnung des Unterrichts.

Die Schülerinnen und Schüler haben so die Möglichkeit unterschiedliche, individuell angeeignete Kenntnisse wiederzugeben, erworbene Fähigkeiten anzuwenden und zugleich ein vertieftes Verständnis historischer Zusammenhänge nachzuweisen, das sonst oft gerade beim Auswendiglernen und Abfragen von Jahreszahlen allenfalls oberflächlich eine Rolle spielt.

Fundstück: Personalisierung, Differenzierung, Individualisierung

Barbara Bray und Kathleen McClaskey haben eine ebenso interessante wie hilfreiche tabellarische Übersicht zusammengestellt, die die grundlegendenen Unterschiede zwischen den Konzepten deutlich macht: (Binnen-) Differenzierung und Individualisierung sind lehrerzentriert. Sie gehen vom Gegenstand aus, der für alle gleich ist und von der Lehrkraft für die Gruppe bzw. die einzelnen Lernenden aufbereitet wird. „Personalized Learning“ hingegen geht vom Lernenden aus, der seinen Lernprozess selbst gestaltet und steuert, sich vernetzt und Verantwortung für das eigene Lernen übernimmt:

Viele Wege führen nach Rom…

Alle regionalen Fachberater in Rheinland-Pfalz waren vom Ministerium beauftragt worden sich mit dem Thema Heterogenität in ihren Fächern zu beschäftigen und konkrete Unterrichtsmaterialien zur Binnendifferenzierung in der Sekundarstufe I am Gymnasium auszuarbeiten. Das Projekt firmiert im Land unter dem Schlagwort „Heko – Heterogenität konkret“. In diesem und im nächsten Schuljahr ist das Thema auch Beratungsschwerpunkt. Zahlreiche Gymnasien haben das aufgenommen und führen eigene Studientage zum Thema durch. Das ist sehr erfreulich. Wer im gymnasialen Bereich arbeitet weiß, dass Heterogenität dort sehr lange kein Thema war. Andere Schularten sind da schon lange viel weiter.

Die Fachberater Geschichte haben mehrere exemplarische Unterrichtsreihen ausgearbeitet. Gestern kam nun das grüne Licht von Seiten des Ministeriums, dass wir das Papier online zur Verfügung stellen dürfen. Zu Heterogenität und Differenzierung gibt es für den Geschichtsunterricht bisher wenig Publikationen. Für eine Einführung und einen Überblick sei der Beitrag von Birgit Wenzel im Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts empfohlen (2012, Band 2, S. 238-254). Für weitere Praxisanregungen der Band von Christoph Kühberger und Elfriede Windischbauer (Individualisierung und Differenzierung im Geschichtsunterricht. Offenes Lernen in Theorie und Praxis, 2012) sowie das Heft Nr. 131 (Differenzierung) der Zeitschrift Geschichte lernen aus dem Jahr 2009.

Wir hoffen mit unserer Handreichung Ideen und Impulse für die Praxis geben zu können. Jeder Fachberater hat dabei ein oder zwei Ansätze gewählt, diese im Unterricht erprobt und seine Erfahrungen als Praxistipps mit den den Materialien in Form eines kurzen Beitrags aufbereitet. Hierin liegt vielleicht eine Stärke der Handreichung: Auf Grundlage einer bewusst sehr kurz gehaltenen, gemeinsamen Situationsanalyse hat jeder je nach Schwerpunkt und Lehrerpersönlichkeit einen unterschiedlichen Zugang zur Differenzierung gewählt.

Alle Ansätze bieten auf ihre Weise Möglichkeiten zur Differenzierung im Geschichtsunterricht mit unterschiedlichen Öffnungsgraden, ohne dass diese explizit genannt oder herausgearbeitet werden. Die Unterrichtseinheiten stehen gleichberechtigt nebenbeinander und sind in aufsteigender Reihenfolge angeordnet nach den jeweiligen Jahrgangsstufen, für die sie erstellt und in denen sie erprobt wurden. Wir haben uns dabei bemüht ein möglichst breites Alters- und lehrplanrelevantes Themenspektrum abzubilden. Die Unterrichtsreihen haben allerdings exemplarischen Charakter, so dass die Differenzierungsmöglichkeiten auch auf andere Themen und Klassenstufen übertragen werden können.

Die Handreichung lässt sich den Seiten der Fachberatung Geschichte in Rheinland-Pfalz als PDF-Dokument herunterladen. Alle Materialien der Handreichung können und sollen im Unterricht verwendet werden. Da die Ausarbeitungen vielleicht nicht immer passgenau zum eigenen Unterricht sind, ein PDF aber keine Veränderungen zulässt, stelle ich den Reader hier auch noch als DOC und ODT Datei zum Download zur Verfügung. Wir hoffen mit dem Papier eine anregenden und praxisnahe Hilfe für den Unterricht zu geben und freuen uns über konstruktive Rückmeldungen!

Mit classroom4.eu im Unterricht arbeiten

Der Beitrag ist etwas länger und liegt daher auf Google Docs. Darin habe ich versucht darzustellen, wie sich mit der Arbeit an dem europäischen Projekt classroom4.eu [Seite existiert nicht mehr] Unterricht öffnen und individualisieren lässt, um unterschiedlichen Interessen und Neigungen von Schülerinnen und Schülern zu berücksichtigen und ihnen verschiedene thematische Zugänge zu bieten.

Das Feedback zu durchgeführten Projekten war von den Lernenden relativ gut. Die Kritik bestand vor allem darin,  dass es viel Arbeit gewesen sei. Positiv hervorgehoben wurde, dass das Gelernte auch in anderen Fächern und  über die Schule hilfreich und nützlich ist.

Die Arbeit an classroom4.eu eignet sich m.E. besonders zum Einstieg in die Oberstufe und die methodische Schulung grundlegender Arbeitstechniken wie Recherche, Exzerpieren und Bibliographieren. Zugleich bieten sich den Lernenden für ihre Texte Internet eine Publikationsmöglichkeit, was neben der Idee der Mitarbeit an einem  innovativen europäischen Bildungsprojekt zusätzlich motivierend wirken kann.

Der auf Google Docs liegende Text kann vielleicht Hilfe und Anleitung sein, diese Art offenen, projektförmigen Arbeitens im eigenen Unterricht auszuprobieren. Über Rückmeldungen und konstruktive Kritik würde ich mich freuen!