Wahrnehmung von Historischem

Als Kind bin ich durch meine Heimatstadt gelaufen und habe mir vorgestellt, wie spannend das wäre, die Häuser historisch bestimmen zu können, aus welcher Zeit sie wohl stammen und an welchen Merkmalen das erkennen kann. Für mich gab es damals nur im wesentlichen zwei Zuordnungen: alt oder neu. Das differenzierte sich mit dem eigenen zunehmendem Alter ein wenig aus, so dass ich zunächst die wenigen vermeintlich mittelalterlichen Häuser (eigentlich wie ich allerdings erst später gelernt habe, waren es vor allem frühneuzeitliche) von denen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts unterscheiden konnte. Heute fällt mir diese zeitliche Einordnung leicht. In meinem Umfeld sehe ich aber auch, dass es nicht jedem so geht… das Interesse an Geschichte und das Studium scheinen also doch irgendwie etwas gebracht haben.

Im Unterricht machen Geschichtslehrkräfte mit Schülern ähnliche Erfahrungen. Schülerinnen und Schüler unterscheiden dichotomisch „früher“ oder „damals“ von „heute“ bzw. „jetzt“. Die erste Voraussetzung zu historischem Denken ist die Wahrnehmung von Historischem. Geschichtliches wahrzunehmen und diese Wahrnehmung auszudrücken kann geübt und damit differenziert werden.

In den Kompetenzmodellen wird das Wahrnehmen unterschiedlich eingeordnet: Gautschi nennt in seinem Modell eine Wahrnehmungskompetenz für „Veränderungen in der Zeit“. In der Bildwahrnehmung wird Wahrnehmung als Kompetenz durch Markus Bernhardt zu einem „Wahrnehmungsmodell“ mit Niveaustufen ausgearbeitet, wobei diese dann Analyse und Deutung umfassen und eigentlich den engeren Bereich der Wahrnehmung damit wieder verlassen.

Als ich den Beitrag von Markus Bernhardt zum ersten Mal las, dachte ich spontan, Wahrnehmen ist eigentlich keine Kompetenz, weil es nicht stufbar ist. Entweder nehme ich etwas wahr oder eben nicht. Diesen schon etwas länger zurückliegenden Impetus versuche hier etwas ausführlicher zu fassen. Wahrnehmung von Historischem kann in unterschiedlichen Formen und Differenzierungsgraden erfolgen, z.B. dichotomisch als alt versus neu, differenzierter in der Erkenntnis, dass ein Haus älter als ein anderes ist und beide sich von Neubauten unterscheiden, durch weitere Kenntnisse mit zunehmend präziseren Epochenzuordnungen, aber auch als Wahrnehmung von Veränderung in der Zeit. Analoges gilt für Texte, Bilder, Filme sowie alle anderen historischen Zeugnisse.

Die Wahrnehmung ist also abhängig von meinen durch Erfahrungen und Kenntnissen gegebenen Vergleichsmöglichkeiten differenziert, aber nicht im Sinne einer stufbaren Kompetenz. Als mentale Basisoperationen werden ausgehend vom FUER-Modell De- und Re-Konstruktion genannt, aber wäre die Wahrnehmung von Historischem diesen beiden nicht beizustellen und in ein Modell dynamischen Geschichtsbewusstseins zu integrieren?

Einen Platz hätte die Wahrnehmung in einem solchen Prozessmodell (wie Hasberg/Körber, Geschichtsbewusstsein dynamisch, 203, S. 187, online: http://edoc.ku-eichstaett.de/1768/1/Sonderdruck_Kompetenzen.pdf, S. 17) auf der gegenüberliegenden Seite der Konstruktoperationen, wo sie die Begriffe „Verunsicherung/Versicherung“ ersetzt. Aus der Wahrnehmung können Probleme und Fragen resultieren. Sie ist zugleich Voraussetzung als auch Resultat historischen Lernens. In Gautschis Modell ist dies enthalten in der Abfolge der Schritte des Wahrnehmens (in Beziehung zwischen Quelle/Darstellung und Fragen), des Erschliessens, des Interpretierens und Urteilens, die zugleich als „Kompetenzbereiche“ benannt werden.

Das Wahrnehmen von Historischem ist jedoch keine Kompetenz, sondern eine grundlegende Denkoperation. Wahrnehmung lässt sich ebenso wie Re- und De-Konstruktion, anders als der Begriff der „Verunsicherung“ im Modell von Hasberg/Körber suggeriert, ausbilden und schulen. Zugleich wird die Wahrnehmung durch den Prozess historischen Denkens erweitert und differenziert – was im Modell meines Erachtens weniger glücklich mit dem Begriff der „Versicherung“ bezeichnet wird.

Zählt man die Wahrnehmung zu den grundlegenen Modi historischen Denkensmüssten ihr ebenso wie der De- und Re-konstruktion auch einzelne Kompetenzen zuordnenbar sein. Aus meiner Sicht ist das der Fall: Unter Wahrnehmen von Geschichte gehört dementsprechend z.B. das Unterscheiden von vorher/nachher, aber auch von Quelle oder Darstellung, das ist nämlich weniger eine Frage der Analyse als der Wahrnehmung, ob der Gegenstand nun Original aus der Zeit überliefert oder ein geschichtskulturelles Zeugnis moderner Provenienz z.B. von einem Mittelaltermarkt ist. Zur Wahrnehmung gehören gleichfalls das Erkennen von Veränderung in der Zeit sowie die zeitliche Einordnung, etwas als mittelalterlich oder dem 19. Jahrhundert zugehörig zu erkennen. Wie oben bereits beschrieben, ist hiermit keine native Wahrnehmung gemeint, die von klein auf vorhanden ist, sondern eine mentale Operation, die über Erfahrungen und Kenntnisse entsprechende Einordnungs- und Vergleichsmöglichkeiten bietet.

Offenkundig spielt die Zeit, die ja distinktives Merkmal der Beschäftung mit Geschichte ist, besonders bei der Wahrnehmung eine Rolle, weswegen ihr eine, soweit ich das sehe, in den bisherigen Kompetenzmodellen nicht aufgenommene, zentrale Bedeutung für das Geschichtslernen zukommt.

Diese Überlegungen bedürften natürlich der tieferen Fundierung und sind zunächst nichts als ein paar lose Gedanken, die ich hier in meinen öffentlichen Zettelkasten schreibe und damit auch zur Diskussion stellen möchte.

Denkt man davon ausgehend übrigens noch weiter, dann müsste jedes vollwertige mediale Angebot zum Geschichtslernen, ob es nun ein Schulbuch, ein Internetportal oder eine App ist, darauf zielen, Möglichkeiten zur Förderung zu allen drei Bereichen historischen Denkens bereitzustellen, neben der De- und Re-konstruktion eben auch zur Wahrnehmung von Historischem.

Die Rolle der Fiktion in der historischen Sinnbildung

Gestern habe ich einen Artikel von Wulf Kansteiner („Alternative Welten und erfundene Gemeinschaften: Geschichtsbewusstsein im Zeitalter interaktiver Medien“, in: Erik Meyer (Hg.), Erinnerungskultur 2.0. Kommemorative Kommunikation in digitalen Medien, Ffm/N.Y. 2009, S. 29-54.) gelesen, der mich im positiven Sinn verunsichert, also zum Nachdenken angeregt hat. Folgt man der Argumentation von Kansteiner, so müsste das geschichtsdidaktische Konzept „Geschichtsbewusstsein“ grundlegend in Frage gestellt werden.

Das Geschichtsbewusstsein hat sich zu einer der zentralen Kategorien der Geschichtsdidaktik entwickelt. In der Darlegung der verschiedenen Dimensionen des Geschichtsbewusstsein geht Pandel von einem „Wirklichkeitsbewusstsein“ aus, das das Individuum dazu befähigt zwischem Real/Historischem und Fiktionalem/Imaginären zu unterscheiden. Die Möglichkeit dieser Unterscheidung ist grundlegend für das Konzept von Geschichtsbewusstsein. So wird eben auch immer wieder darauf hingewiesen, dass jüngere Kinder diese Unterscheidung eben noch nicht treffen können.

Quasi selbstverständlich wird man den meisten Erwachsenen diese Fähigkeit zubilligen. Sie können  (in der Regel) einen Roman von einem Sachbuch, einen Fantasyfilm von einer Dokumentation usw. unterscheiden und werden diese jeweils anders verarbeiten. Aus einigen Untersuchungen zur Oral History ist allerdings bekannt, dass Zeitzeugen in ihre Erzählungen Elemente fiktionaler Literatur und Filme einbauen, die sie als eigene Erfahrungen erinnern. Im Rückblick werden Fiktion und Realität offensichtlich nicht unterschieden, sondern werden zumindest teilweise in einer Erzählung miteinander verflochten. Mir ist nicht bekannt, dass dieses Phänomen in der Empirie oder Theorie zum Geschichtsbewusstsein bisher berücksichtigt worden wäre (Falls doch, wäre ich für entsprechende Literaturhinweise dankbar!).

Kansteiner geht von eben dieser Grundannahme aus, dass in der Erinnerung nicht mehr zwischen Real und Fiktiv unterschieden werden kann. Er argumentiert, dass die Verwischung sich durch die digitalen und interaktiven Medien, vor allem was Videospiele und virtuelle Welten angeht, in Zukunft verstärken wird. Erinnert wird in Abhängigkeit  von der Intensität ausgelöster Emotionen. Die Immersion in immer realistischer anmutende digitale (Alternativ-)Welten fördert emotionales Erleben bzw. zielt direkt darauf ab. Besonders trifft dies natürlich auf die Übernahme von Rollen als Handelnder in Spielen zu, in denen das einfache Nachspielen vorgegebener Handlungsstränge zugunsten interaktiver Möglichkeiten der Kreation eigener Erzählungen abnimmt.

Kansteiner geht nur kurz darauf ein, aber ich würde stärker betonen, dass die Übernahme von fiktionalen Elemente als Eigenes in die Erinnerung bei allen fiktionalen Werken, die ein Individuum berühren/ihm oder ihr nahe gehen, schon immer der Fall ist; und dies bei jedem, nicht nur bei Zeitzeugen. Diese erinnerten „Erfahrungen“ tragen natürlich auch zur historischen Sinnbildung bei, die damit also keineswegs so rational wäre, wie die geschichtsdidaktische Theorie bisher vorgibt (wenn ich das denn richtig verstanden habe).

Was aber bedeutet es für die Theorie des Geschichtsbewusstsein, für historisches Lernen allgemein und den schulischen Geschichtsunterricht speziell,

– wenn der Einzelne zwar beim Anschauen, Lesen oder Spielen bewusst zwischen Realität und Fiktion unterscheiden kann (oder diese Unterscheidung z.B. im Geschichtsunterricht erlernt),

aber in der Erinnerung diese Grenze aufgehoben wird,

– fiktionale, kontrafaktische Geschichtserzählungen und Vergangenheitsdeutungen in Teilen als eigene Erfahrungen und Erkenntnisse erinnert werden

– und sich daraus Vorstellungen und Konzepte von Geschichte generieren?

geschichtsdidaktik empirisch 09

Die Kollegen vom weblog.histnet.ch haben ja schon eine kurze Zusammenfassung der Tagung gegeben. Ergänzend möchte ich dazu den abendlichen Kurvortrag von Peter Seixas hier noch einmal herausstellen, ein kurzes aber helles Glanzlicht der Veranstaltung:

Wer sich je auch nur ansatzweise mit der deutschsprachigen Forschungsliteratur zum Thema Geschichtsbewusstsein auseinander gesetzt hat, wird begeistert von dem erfrischend pragmatischen Herangehen von Seixas sein. (So ging es mir zumindest!) In Deutschland viel zu wenig bekannt sind seine für die Praxis erarbeiteten Benchmarks of Historical Thinking.

Dabei haben er und sein Team sechs Punkte herausgearbeitet, die sie für besonders (nicht ausschließlich) relevant halten:

1) Herstellen von historischer Bedeutsamkeit

2) Beweisführung anhand von Quellen (Englisch: primary sources!)

3) Aufzeigen von Kontinuität und Wandel

4) Analyse von Ursache und Wirkung

5) Einnehmen historischer Perspektiven

6) Verstehen der moralischen Dimension von Geschichte

Unter der Fragestellung „Was sollen Schüler nach 12 Jahren Geschichtsunterricht wissen?“ stellt die dazugehörige Webseite eine hierzulande noch weitgehend vermisste Verbindung von geschichtsdidaktischer Forschung und praktischem Geschichts- unterricht her.

Kurz gehalten, ebenso anregend wie leicht verständlich… bezeichnend fand ich die Antwort auf eine Nachfrage von Bodo von Borries: Wie es ihm denn gelungen sei, Konsens bei Experten und Institutionen für dieses Konzept herzustellen? Seixas schien die Frage zunächst nicht zu verstehen… und antwortete dann ganz nordamerikanisch pragmatisch: Man habe einfach mal gemacht, das Konzept erstellt und veröffentlicht… well.