#ICM2013: Das ICM im schulischen Geschichtsunterricht

Am Dienstag startet die zweite deutsche Konferenz zum Inverted Classroom Modell in Marburg. Das Programm findet sich auf den Seiten des ICM-Blogs. Auch die Referenten werden mit den Abstracts für ihre Beiträge dort kurz vorgestellt. Hier schon einmal vorab ein Blick in die Prezi für meinen Vortrag im Plenum, der als Erfahrungsbericht aus der Praxis nach einem Jahr und mehreren „geflippten“ Unterrichtsreihen angelegt ist. Daher passte die Prezi-Vorlage zur Erkundung einer unbekannten Insel ziemlich gut- es gab Umwege, gefährliche Klippen… und am Ende dieses Jahres seit der letzten Konferenz ist sicher kein endgültiges Ziel erreicht, aber doch irgendwie ein Schatz gehoben mit einem im Vergleich zu davor stark veränderten Unterricht.

Der „Flipped Classroom“ als Übergangsmodell?

Unter dem Titel des Beitrags gibt es drüben bei Christian Spannagel eine interesssante Diskussion. Ich habe dort gerade kommentiert und veröffentliche den Kommentar hier – leicht verändert – noch einmal:

Wenn man sich neuere Blogbeiträge aus den USA zum „flipped classroom“ (siehe z.B. hier) oder auch das Buch von Bergmann/Sams anschaut, dann wird dort eigentlich genau das beschrieben: der Flipped Classroom als “Übergangsmodell” zu anderen Formen von Lehre und Unterricht.

Unter dem Begriff des “flipped classroom” finden sich in der Praxis mittlerweile völlig unterschiedliche Arte gemeinsame Lernzeit zu gestalten. Wobei ich zwei unterschiedliche Ebenen sehe:

a) eine stark verkürzte Rezeption, vor allem in den Medien, aber auch bei vielen Kollegen, die die Videos fokussieren;

b) die Praktiker, die das Modell ausprobieren und es in ihrem Unterricht selbstständig weiterentwickeln.

Auch wenn der Ausgangspunkt das Vertauschen von “Unterrichts-” mit “Hausaufgabenaktivitäten” und das Lernen mit Videos war, ist dies gar nicht mehr der kleinste gemeinsame Nenner des Modells in der Praxis. Was allen Praxisbeschreibungen, soweit ich das überblicke, hingegen gemeinsam ist, ist die Aktivierung der Lernenden, die zunehmend individuell, kollaborativ und eigenverantwortlich ihre Lernprozesse organisieren. Damit verbunden natürlich eine gewandelte Rolle des Lehrers/Dozenten.

Welche Rolle spielt dann noch der eigentliche Ausgangspunkt des “flipped classrooms”?

Er ist Auslöser und Katalysator für weitergehende Veränderungen, regt an über grundlegende Fragen der Unterrichts- und Lernzeitgestaltung, der Rolle von Lehrkraft und Lernenden grundsätzlich nachzudenken und kann dadurch zu einer veränderten Haltung und Einstellung zur eigenen Rolle als „Lehrkraft“ (?) sowie zu Lernen und Unterricht führen. Das ursprüngliche Flipped Classroom-Modell bietet, genau Christian schreibt, einen guten Einstiegspunkt in solche Veränderungen für alle, die bisher stark lehrer- und inputzentriert arbeiten.

Ich habe meinen Unterricht nicht in Klassen umgestellt, aber da wo ich mit dem “flipped classroom” experimentiert habe, bin ich letztendlich bei Formen von Portfolio-Arbeit, LdL und Projektlernen gelandet – ganz ohne Videos, aber mit hoher Aktivierung und Verantwortlichkeit der Lernenden für Auswahl und Gestaltung von Lernprozessen und -inhalten.

UNESCO integriert BYOD und Flipped Classroom in ihre „Policy Guidelines on Mobile Learning“

Ensure the productive use of time spent in classrooms

UNESCO’s investigations have revealed that mobile devices can help instructors use class time more effectively. When students utilize mobile technology to complete rote tasks such as listening to a lecture or memorizing information at home, they have more time to discuss ideas, share alternate interpretations, work collaboratively, and participate in laboratory activities while at school. Far from heightening isolation, mobile learning allows people increased opportunities to cultivate the complex skills required to work productively with others.

A model gaining traction in North America “flips” classrooms by asking students to watch informational lectures outside of school – usually on mobile devices carried with students wherever they are – so that greater class time can be devoted to the application (as opposed to the mere transmission) of disciplinary concepts. Tasks that were once school-work become homework, and school-work places greater emphasis on the social aspects of learning.“ […] (S. 5)

Develop strategies to provide devices for students who cannot afford them

Mobile devices hold special promise for education, in large part, because a majority of people already have access to one. Collectively, they are the most common ICT on the planet. While governments should seek to enlarge learning opportunities for the huge number of people who have a personal mobile device, they also need to ensure mobile learning opportunities remain open to students who do not currently have one.
Currently there are three widely-practiced models for ensuring people have the hardware needed for mobile learning: 1) governments or other institutions provide devices directly; 2) students bring their own devices, commonly referred to as BYOD; or 3) governments and institutions share provisioning responsibilities with students.  As expected, the BYOD model is attractive because it is inexpensive – the costs of the devices, their maintenance, and their connectivity plans are usually shouldered by students – and, as a result, BYOD projects can be implemented quickly in areas where most students have mobile devices.

However, BYOD has serious limitations if it fails to accommodate students who do not own mobile hardware or creates scenarios where students with superior devices and connectivity plans can outperform those with inferior devices and plans.

Policy recommendations:

  • Ensure equal access for all students and teachers to mobile technology and participation in mobile learning. In the case of BYOD implementations, governments should adopt measures to provide mobile hardware and connectivity to students who do not own their own devices.
  • When possible, allow students to “own” their mobile devices. A principle advantage of mobile learning is that it opens up educational opportunities inside and outside of schools.
  • Encourage government departments and educational institutions to negotiate with vendors and leverage the purchasing power of large numbers of students.“ (S. 10)

Source (PDF): http://www.unesco.org/new/fileadmin/MULTIMEDIA/HQ/ED/pdf/UNESCO_Policy_Guidelines_on_Mobile_Learning_DRAFT_v2_1_FINAL__2_.pdf

Die UNESCO lädt dazu ein, den Entwurf auf ihren Seiten zu diskutieren, Anregungen und Kritik einzubringen:

http://ict.unescobkk.org/forum/viewtopic.php?f=4&t=57603

#flipclass – mehr als Videos

Wie im vorangehenden Beitrag zum Flipped Class-Buch beschrieben, funktioniert das Konzept vor allem als Katalysator für das Nachdenken über den Unterricht selbst und kann daraus folgend zu Veränderungen erlernter, eingefahrener Unterrichtsroutinen führen.

Eine der häufigsten Fragen bei der Einführung des Flipped Classrooms ist die nach den Aktivitäten in der Unterrichtszeit:

„My biggest concern is finding meaningful and interesting activities for students to do during class time if they are getting the information at home.“ (Zitat siehe hier)

Das gilt auch für den Geschichtsunterricht. Wenn wir die inhaltliche Erarbeitung von Stunden, in denen wir sonst Verfassertexte im Schulbuch lesen lassen und „gemeinsam“, ein von uns als Lehrkraft zuhause entworfenes Tafelbild „entwickeln“, in die Hausarbeit verlagern, was machen wir dann im Unterricht?

Hier liegt eine Chances des Ansatzes: Plötzlich ist nämlich Zeit da für die Dinge, die oft am Ende einer Stunde nur angerissen oder ganz in die Hausaufgaben verlagert werden, wo Schüler dann nicht selten überfordert sind. Nach Aussagen vieler Kollegen fühlen sie sich durch die „Stofffülle“ des Fachs in Verbindung mit einer geringen Wochenstundenzahl regelrecht „gehetzt“ und haben „keine Zeit“ für „schönen Unterricht“. Der Flipped Classroom bietet ein flexibles und einfaches Modell, den eigenen Unterricht innerhalb der bestehenden Lehrplanvorgaben und der aktuellen Bedingungen von Schule anders zu strukturieren.

Für welche (Lern-) Aktivitäten bietet das Flipped-Modell im Geschichtsunterricht mehr Zeit und Raum? Zu nennen wären z.B.:

– Erstellen von eigenen Narrationen als Lernprodukte: Essays, journalistische Artikel, Geschichtszeitungen, Tagebucheinträge, Briefe, Blogs, Podcasts, Videos usw.

– vertiefende Analyse und Vergleich von Quellen, Darstellungen und vor allem Zeugnissen der aktuellen Geschichtskultur, gleichfalls in verschiedenen medialen Formen und mit Hilfe unterschiedlichster Methoden

– Diskussionen: von aktuellen Themen, aber auch klassischen Fragen des problemorientierten Unterrichts, in verschiedenen methodischen Formen (Pro-Contra, Podiumsdiskussion, Fishbowl etc.)

Wenn Narrativität von der Geschichtsdidaktik als zentral erachtet wird und die Re- sowie De-Konstruktion von Narrationen im Zentrum des Geschichtsunterrichts stehen soll, dann bietet der Flipped Classroom ein mögliches Modell für eine anspruchsvolle kompetenzorientierte Unterrichtsgestaltung.

Wer noch einen Schritt weitergehen möchte, kann sich mit Hilfe des Flipped Classrooms-Modells auch vom gleichmäßigen Fortschreiten der Lerngruppe lösen und den Unterricht individualisieren, in dem für einzelne Einheiten Ziele (Inhalte und Kompetenzen) vorgegeben, den Schülerinnen und Schüler verschiedene Materialien (Texte, Videos etc.) zur Verfügung gestellt und eine (ggf. benotete) Form der Evaluation vereinbart. Letztere kann variieren von einem Test für alle über unterschiedliche Lernprodukte oder nur ein mündliches Gespräch mit der Lehrkräft.

Die Arbeit erfolgt dann individuell und in wechselnden Kleingruppen zur gegenseitigen Unterstützung. Die Lehrkraft wird zum Lernberater und kann den Lernenden dort und dann helfen, wo sie Probleme haben.

Buchtipp: Flip your classroom

Der Flipped Classroom scheint auch in Deutschland angekommen zu sein, zumindest in den Medien, darauf hat Christoph Pallaske vor kurzem noch hingewiesen, wenn auch noch offensichtlich weiterhin weniger bei den Lehrkräften an den Schulen (siehe z.B. die kleine Zahl der im deutschen ICM-Netwerk registrierten).

Über die Gründe, warum das so ist, lässt sich lange diskutieren (siehe z.B. hier auf Google+). In ihrem gut lesbaren Buch erzählen die beiden „Pioniere“ Jonathan Bergmann und Aaron Sams in einem angenehmen kollegialen Gesprächston, wie sie zum „Flipped Classroom“ gekommen sind, was ihre Ausgangsbasis war („We both started teaching […] using the traditional lecture method“, S. 103), wie sie ihr Konzept nach und nach (weiter-) entwickelt haben und sie geben praktische Tipps für alle, die das Konzept selbst ausprobieren wollen.

In dem Buch findet sich nichts, was sich nicht auch im Netz in verschiedenen Blogs oder Zeitungsberichten nachlesen ließe. Einen guten Überblick zum Einstieg bietet auch das von Dan Spencer zusammengestellte Google Doc. Der Vorteil des Buches liegt in seiner kompakten Zusammenstellung. Spannend und zugleich motivierend zu lesen ist, wie das Konzept schrittweise entwickelt wurde, wobei die Autoren auch ihre Fehler und Irrwege beschreiben und was sie daraus gelernt haben. Wer Interesse hat, selbst den „flipped classroom“ im Unterricht auszuprobieren, wird mit dem Buch sicher eine gute Grundlage haben, um das ein oder andere Problem bei der Umsetzung zu vermeiden.

Ihr Vorgehen resultierte ohne Rückgriffe auf Literatur und bestehende Unterrichtskonzepte. Das ist einigermaßen unbekümmert, und vielleicht auch naiv zu nennen, hat aber durch das vermutlich glückliche Zusammentreffen engangierter Lehrer in der US-amerikanischen Provinz zu einer eigenständigen Entwicklung geführt, bei der die Autoren erst im Nachhinein die großen Schnittmengen und Ähnlichkeiten zu anderen Konzepten wie z.B. dem Projektlernen, Offenen Unterricht und Blended Learning entdeckt haben. Entsprechend kommt der schmale Band völlig ohne Fußnoten oder sonstige Referenzen daher und belegt seine Thesen durch Erfahrungsberichte, oft in Form exemplarischer Anekdoten.

Bei der Rezeption des Konzepts und seiner Popularisierung wurde es wiederholt auf den Einsatz von selbst produzierten, online verfügbaren Unterrichtsvideos reduziert (vor allem auch durch die Selbstdarstellung der bekannten Khan-Academy – siehe dazu auch hier). Die Autoren werden nicht müde zu wiederholen, dass es nicht um Videos geht, die zwar für sie den Ausgangspunkt bildeten und durch die Internetpräsenz auch massiv zur Verbreitung beigetragen haben, aber nicht den Kern des Konzepts darstellen.

Es ging ihnen darum, Unterricht zu personalisieren, als Lehrer mehr Zeit für den einzelnen Lernenden zu haben, diese individuell und damit differenziert zu fördern und sie aus der passiven Rolle in eine aktive zu versetzen, in der die Lernenden selbst für ihren Lernprozess verantwortlich sind. Die Autoren sind sich bewusst, nichts weltbewegend Neues erfunden zu haben:

We do not claim to have invented some new pedagogy, and we have not tried to brand an innovation. (S. 111)

Ein erfrischend ehrliches Statement angesichts des Hypes, das um den Flipped Classroom entstanden ist und den Ton des gesamten Buches gut trifft. Weg von den so stark fokussierten Videos liegt der Ausgangspunkt für den Flipped Classroom in einer zentralen Frage:

Which activities that do not require my physical presence [as a teacher] can be shifted out of class in order to give more class time to activities that are enhanced by my presence? (S. 96)

Ziel ist es, die Lernenden in der gemeinsamen Zeit in der Schule individuell anzusprechen und ihnen dort zu helfen, wo sie Probleme haben. Wenig überraschend ist dann auch die Beschreibung der veränderten Lehrerrolle, die Bergmann und Sams als „role of a supportive coach“ (S. 71) skizzieren.

Die Videos sind dabei nur ein Material neben vielen anderen. Ebenso erfolgt eine Öffnung für unterschiedliche Ausdruckformen der Lernenden, die ihren Lernprozess und die Ergebnisse schriftlich, mündlich, als Video, Podcast oder in Form eines Blogs dokumentieren. Die digitalen Medien erweitern die Möglichkeiten enorm sowohl in der Verfügbarkeit von Informationen als auch in der Dokumentation und Darstellung. Daher ist es kein Zufall, dass das Konzept in den letzten Jahren entstanden ist. Das schließt, wie selbstverständlich angesichts der Ausstattungsituation der Schulen, die Idee des BYOD (Bring your own device) mit ein, ohne dass diese so genannt wird:

The sad thing is that most students are carrying in their pockets a more powerful computing device than the vast majority of computers in our underfunded schools – and we don’t allow them to use it.  […] We encourage our students to bringin  their own electronic equipement because, frankly, it is better than our school’s antiquated technology. (S. 20f.)

Das dürfte auf die Situation in den meisten deutschen Schulen ebenso zutreffen. Natürlich wissen die Autoren um die Probleme. Ihren Kritikern halten sie entgegen, dass es Aufgabe von Schule und Lehrkraft ist, eine gleich faire Lernumgebung für alle anzubieten:

Those interested in education technology must do everything in their power to bridge the digital divide. (S. 97)

Das ist im übrigen günstiger, weil nur Lücken gefüllt werden, als der Versuch der Vollausstattung von Schulen mit Computerräumen oder Laptops, die zudem schnell veralten und oft schlecht geflegt werden.

Ingesamt grundlegend scheint folgende Aussage:

Allowing the students choice in how to learn has empowered them. […] we give them the ownership of their learning. (S. 67f.)

Das beschreiben Bergmann und Sams zugleich als einen der schwierigsten Prozesse für erfahrene Lehrkräfte: die Verantwortung an die Schüler abzugeben. Und zugleich wissen sie, dass einigen ihr Ansatz hierbei nicht weit genug geht:

Strong constructivists and die-hard project-based learning advocates will say the we have not gone far enough in handing over the learning to our students. (S. 111)

Ich denke, genau hier liegt aber auch eine Erklärung, warum der Flipped Classroom so schnell Verbreitung findet. Das Konzept ermöglicht mit Hilfe von digitalen Medien eine Differenzierung und Individualisierung von Unterricht, wie sie seit Jahrzehnten gefordert wird, aber kaum Umsetzung erfahren hat. Der Flipped Classroom bietet Lehrern ein Modell zu einer schrittweisen Öffnung ihres Unterrichts, das ihm Rahmen des eigenen Unterrichts, der bestehenden Stundentafeln und des gegenwärtigen Gesamtsystems Schule funktioniert.

Bergmann und Sams weisen zurecht darauf hin, dass der Flipped Classroom bisher nicht wissenschaftlich evaluiert ist und daher ihre Beschreibung höchst subjektiv ist. Aus der Praxis können beide eben nur sagen, dass das Modell in ihrem Unterricht funktioniert. Der Flipped Classroom ist somit nur ein Konzept neben anderen und es ist wichtig, jeweils zu überlegen, wo und wie, für welche Inhalte und Kompetenzen, mit welcher Lerngruppe usw. es sinnvoll eingesetzt werden kann. Methodische Abwechslung bleibt grundlegend und das Verkehrteste wäre daraus eine Ideologie zu machen, wie Unterricht abzulaufen hat.

Wer methodische Alternativen sucht und seinen Unterricht öffnen will, dem bietet der Flipped Classroom ein ebenso hilfreiches wie einfaches Modell, das sich lohnt im Unterricht auszuprobieren, sofern man bereit ist die tradierte Lehrerrolle zu verlassen und den Lernenden Verantwortung zu übertragen:

[…] flipping the classroom is an easy step that any teacher can take a move away from the in-class direct instruction to more student-directed and inquiry-based learning. (S. 111)

Jonathan Bergmann / Aaron Sams, Flip your classroom: reach every student in every class every day, ISTE, Eugene/Washington D.C. 2012.