Nachdenken über OER – Nachlese zur Konferenz

In Berlin fand am Wochenende die von der Wikimedia ausgerichtete zweite OER Konferenz statt, die u.a. durch UNESCO und BpB unterstützt wurde. Das Programm bestand aus Keynotes, Talks und Barcampteil, letzteres allein mit insgesamt über 30 einzelnen Sessions. Vorträge wie Sessions sind online dokumentiert: Programm und Folien stehen auf den Seiten der Veranstaltung, die einzelnen Sessions sind durch die Teilnehmer in Etherpads (jeweils unter der Sessionankündigung verlinkt) dokumentiert. Die Tagung war sehr gut organisiert, der Veranstaltungsort, die Atmosphäre und Gespräche waren prima. Die aus den zahlreichen Anregungen der zweitägigen Konferenz folgenden Gedanken und Überlegungen versuche ich mit diesem Beitrag ein wenig zu ordnen und zur weiteren Diskussion zu stellen.

bookworm_penguinIn seiner Session am zweiten Tag lieferte André Hermes in seinem einführenden Input eine schlüssige Erklärung, warum OER in den Schulen bei einer Mehrheit der Lehrer kein Thema ist. Er stellte dazu den analogen Lehrer einem digitalen gegenüber. Der analoge Lehrer bediene sich an zahllosen Stellen, kopiert, schneidet, klebt -also remixt- das gefundene Material um für seine Lerngruppen und seinen Unterricht passende Lernangebote zu kreieren. Im besten Fall teilt er seine Arbeitsblätter sogar mit Kollegen. Bei den benutzten Materialien sind vielleicht auch OER dabei, vermutlich ohne dass er das bemerkt, weil die Lizenzen egal sind.

Die Frage nach OER kommt erst dann auf, wenn der Lehrer anfängt im Klassenraum digital zu arbeiten, wobei André zu Recht betont hat, dass für frontale Unterrichtsformen z.B. am Whiteboard die Verlage mittlerweile durchaus Angebote machen. Eine Änderung findet also erst statt, und das war für mich die zentrale Erkenntnis der Session, wenn die Schülerinnen und Schülern an der Erstellung eigener Produkte mit digitalen Endgeräten arbeiten.

Für mich fokussiert die Debatte über OER bislang zu sehr die Angebotsseite. Es gibt ja durchaus bereits OER-Angebote und es wird darüber diskutiert, weitere zu schaffen. Ein im Sinne von André analoger Lehrer kann aber gar nicht verstehen, was das Tolle an OER sein könnte und warum er daran überhaupt Interesse haben sollte. Werbung für OER kann also kaum funktionieren. Für analoge Lehrer wäre damit sogar eine Einschränkung verbunden, nutzen viele doch für ihre Arbeitsblätter auch urheberrechtlich geschütztes Material.

Daher ist es wichtig, sich die Nachfrageseite stärker anzuschauen. Nur durch weitere OER-Angebote wird die in Deutschland im Schulbereich bislang eher geringe Nachfrage nicht gesteigert werden können. Dies gilt ebenso für die Nutzung von OER. In der Debatte zentral ist nicht nur die Idee der einfachen Nutzung, sondern im Unterschied zu urheberrechtlich geschützten Materialien die Möglichkeiten des Remixen und Neuveröffentlichens. Auf der Konferenz habe ich mehr als einmal gehört, dass vorhandene Angebote durchaus genutzt, auch für die eigene Lerngruppe angepasst werden, aber eine Weiterentwicklung und Teilen veränderter Materialien scheinen (bislang) kaum stattfinden. Gute Ideen dazu lieferte Guido Brombach, der zu Recht in einem 10-Punkte-Programm darauf hinwies, dass es nicht reicht, einfach Materialien irgendwo auf eine Seiten im Netz zu stellen, sondern, wenn man möchte, dass das Angebot genutzt und weiterentwickelt wird, eine Community darum aufzubauen und zunächst über persönliche Kontakte Fachkollegen per Mail darauf hinzuweisen und ggf. um Rückmeldung zu bitten.

David Klett hat sich in mehreren Talk und Sessionangeboten, die unter unterschiedlichen Titel firmierten aber wesentlich ähnliche oder sogar die gleichen Argumenten wiederholt, für mich allerdings überzeugend vermittelt, dass ein Verlag auf Nachfrage reagiert. So lange ein Verlag mit seinem Angebot Abnehmer findet, warum sollte er sein Angebot ändern? Würden die Lehrer andere Formen einfordern, ließe sich damit Geld verdienen und die Verlage würden entsprechend reagieren. Das System hat also eine starke Beharrungskraft durch die normative Kraft des Faktischen. Den Schulbuchverlagen dies vorzuhalten ist meines Erachtens grundverkehrt: Sie orientieren sich am Markt und produzieren das, was sie meinen, verkaufen zu können. Die Nachfrage bestimmt das Angebot. Wer hier eine Änderung will, so wie Dirk Van Damme in seiner Eingangskeynote gefordert hat, dass OER nicht nur ein Pionierelitenphänomen bleibt, sondern in den Mainstram aufgenommen wird, der muss die Nachfrage stimulieren.

Forderungen OER Schulbücher über den Staat zu finanzieren, sehe ich ähnlich kritisch wie Klett. Die öffentlichen Kassen sind knapp, in vielen (den meisten?) gibt es Lehrmittelfreiheit. Die Finanzierung von OER-Schulbüchern wären für den Staat also eine doppelte Belastung. Der Drang nach Kostenreduzierung könnte schnell so groß sein, dass das ein Mal finanzierte Buch dann verpflichtend für alle wird. Auch die Vorfinanzierung durch Ausschreibung scheint mir problematisch: Was passiert, wenn das (eine, in Auftrag) gegebene Buch nicht rechtzeitig fertig wird oder qualitativ doch nicht den Anforderungen entspricht. Klar kann in letzterem Fall nachbessern, aber das ist ja nicht Sinn und Zweck des Auftrags, zumal dies auch noch einmal Zeit und Arbeit in Anspruch nimmt. Wenn aktuell ein Verlag ein Buch schlecht oder zu spät auf den Markt bringt, verkauft er es nicht. Das scheint mir die gegenwärtige beste Sicherung von Qualität, die durch die Wahl und Entscheidung der Kunden bestimmt wird.

Ebenso abwegig wie ärgerlich fand ich allerdings Kletts Verweis auf vor allem Ungarn, um ein Schreckensszenario von staatlichen Eingriffen in die schulischen Inhalte an die Wand zu malen.Nicole Allen hat in ihrer Abschlusskeynote auf Nachfrage aus dem Publikum ganz zu recht betont, dass öffentliche Gelder nicht automatisch Einflussnahme bedeuten, sondern dies von Gesetzen und politischer Kultur des jeweiligen Landes abhängig ist. Darüber hinaus nimmt der Staat bereits zentralen Einfluss auf die Inhalte: Die Bundesländer erstellen die Lehrpläne. Und natürlich finden sich hier immer auch normative Setzungen.

Wer argumentiert, dass diese so allgemein sind, dass sie den konkreten Unterricht nicht betreffen, der möge sich mal den neuen Lehrplan für Geschichte in der Sekundarstufe I in Rheinland-Pfalz anschauen, wo z.B. verpflichtend gesetzt wird, beim Thema Herrschaft eine Form Rollenspiel, bei der Gesellschaft nach 1945 eine Zeitzeugenbefragung durchzuführen. Das mögliche Argument, dass die Lehrkräfte den Lehrplan vielleicht gar nicht so genau umsetzen, weil es keiner kontrolliert, gilt in gleicher Form für die konkrete Arbeit mit Schulbüchern im Unterricht. Vermutlich kann jeder aus seiner Schulzeit einen Lehrer erinnern, der ein verpflichtend angeschafftes Lehrbuch so gut wie nie eingesetzt und stattdessen vornehmlich mit Kopien gearbeitet hat.

Was bedeutet das für OER?

Meines Erachtens spielen Open Educational Resources nicht die zentrale Rolle, die ihnen zugeschrieben wird. Die Debatte ist weiterhin stark politisch, technisch, rechtlich und programmatisch geprägt, nach meinem Empfinden zu wenig pädagogisch und im Mainstream der Praxis nicht angekommen. Das wird sich vermutlich nicht ändern, so lange über OER und nicht über Lernen gesprochen wird. Was OER leisten können, ist quasi als „Label“ einen Rahmen für Diskussion und Austausch zu bilden, wie z.B. die Konferenz wieder gezeigt hat.Aber es gilt auch zu beachten, dass auch unter freien Lizenzen stehende, im Internet veröffentlichte Arbeitsblätter zwar OER sein können, aber zugleich nur ganz geschlossene Aufgaben enthalten und behavouristischen Lernkonzepten folgen. Entscheidend ist daher vielmehr eine veränderte Lernkultur, die Gestaltung der Lernsituation und die Nutzung der Materialien. Für die Öffnung von Schule und Unterricht zu Demokratisierung, Individualisierung und Projektorientierung können OER eine hilfreiche, bei der Arbeit mit digitalen Endgeräten vielleicht sogar notwendige Unterstützung sein, da sie z.B. das Erstellen und Veröffentlichen anderer Lernprodukte ermöglichen – selbst Treiber oder Katalysatoren für diese Entwicklung scheinen sie mir allerdings weniger zu sein.

„Will you join me in this revolution?“

Gestern habe ich ein paar Auszüge aus der Rede der EU-Kommissarin Neelie Kroes auf der Online Educa vom 1. Dezember als Kommentar unter die Diskussion zum #speedlab2 gepostet. Da geht der Text meines Erachtens aber etwas verloren und ich finde die Rede so klasse, dass ich einige Auszüge in einem eigenen Artikel nochmal aufnehmen möchte. Den Volltext gibt es übrigens hier und den kann man auf der Website von Neelie Kroes auch kommentieren und disktutieren. Die Aufzeichnung der Rede als Video habe ich leider noch nicht gefunden.

Ladies and Gentlemen,

[…] In the last 20 years, the information and communications revolution has really taken off. The Internet, smart-phones and tablets are a world of opportunity. And they are as readily available, as readily usable for today’s generation as the home telephone, radio and the television once were. These days people can enjoy access to information and expect it anytime, any place, anywhere. […]

Elsewhere in the world, people have realised this potential. In South Korea, all classrooms will go fully digital by 2015, ending the paper and textbook era. I recently visited a primary school in the slums of Nairobi, Kenya – and even there they’ve realised the potential of ICT, they are teaching kids computers. Even there it’s having an impact on the children, broadening their skills, expanding their horizons, and opening up new hope for the future.

So, why, here in Europe, do most of our classrooms still feel like they did when I was at school? When digital media can be combined to create interactive rich content to help teaching: why are we still based on blackboards, textbooks and a uniform approach for everybody? In today’s digital world, are we really doing all we can to ensure we use the digital revolution to educate, to enrich, to enlighten?

My goal in the EU is clear: to get Every European Digital. That has to include education and training. We need every teacher digital, and every student digital. Right from the very start of formal education, and as part of lifelong learning.

[…] If these solutions can transform our relationship to knowledge – how we find it, access it, acquire it – then it is our duty to make sure everyone has that opportunity. They should not have to wait until they are locked onto a career path – they should have these opportunities from the earliest age, including at school.

No two people learn alike. There are as many ways to learn as there are learners. Some people need time to approach an idea from new angles; but those who get it straight away will get bored if they can’t move on. Some people want to hear an explanation, others to see a demonstration. Some learn best by themselves, others in a group. Some in a formal learning environment; others at home over morning coffee. And so on.

Technology can respond to this: it can tailor learning. It can help people learn at their own pace, in their own way, wherever they are, and throughout their lives. Let’s embrace that fact. And let’s change the way we learn.

Because if we don’t provide these opportunities we will be guilty of a grand failure: a failure to give our children the best chance in life.

Of course, the words are the easy part. I know you share a desire to fulfil this potential. The hard part, of course, is changing things. […]

To really make this case, we need to join forces. Because to transform education, we will need not just education experts; not just technology experts; not just funding experts. We need all three: we need people from all those areas to sit down, work together, and understand each other’s needs. That is the only way to get products which are useful to teachers, trainers and students. Products which are reliable, user-friendly, and which make a difference on the frontline.

I propose to get everyone together: in a common, multi-stakeholder platform. So those making technology can learn the needs of those in education. So educators can learn, support and champion the benefits of new technology. And, overall, so we can mainstream new technology into the European education and training systems. […]

Changing learning through technology might not be an overnight process – but it will be a revolutionary one.

At the moment, we are on the right road, but we are moving too slowly. So let’s speed up – let’s work together to put this right at the centre of our public policy agenda. Information and communications technology has already transformed how we connect, interact and transact. With the right ingredients and the right approach, we can also give learning and education their rightful place in this revolution. […]

We have to think not of „what is“; but „what could be“. Not simply to repeat the comfortable habits of the past; but to capture the massive opportunities of the digital future. Learning new things is not just for pupils and trainees: it is for everybody in our education and training system. Teachers, too, can learn to do things differently.

If we do this, we can build a system where teachers have the technological tools to reach out to students of all needs, backgrounds, and abilities. We can stimulate an economy that produces wild, exciting innovations to support the education sector. And we can build a society where education is an endless adventure for everybody.

Ladies and gentlemen: will you join me in this revolution?

Ich habe vor, den gekürzten Text der Rede morgen zur Grundlage für eine Seminarsitzung mit Geschichtsreferendaren zu machen. Im Mittelpunkt der Diskussion sollen dann die folgenden drei Fragen stehe

– Wie wirkt sich der durch die Digitalisierung bedingte gesellschaftliche und technologische Wandel auf den Geschichtsunterricht aus?
– Wie kann der Geschichtsunterricht auf diese Herausforderungen reagieren?
– Wie können die Möglichkeiten der digitalen Medien für historisches Lernen genutzt werden?
 

Natürlich könnte man einwenden, dass aufgrund des Wandels sich vielleicht in Zukunft auch die bestehende Struktur von Schule und vor allem die Unterteilung in Fächer auflösen wird, hier geht es jedoch um einen pragmatischen Ansatz zu notwendigen und möglichen Veränderungen auf Ebene des Unterrichts.

P.S. Nachdem es im Seminar eben so viel Kritik als Reaktion auf den Text gegeben hat, habe ich einige Stellen im Text noch einmal markiert und damit hervorgehoben. Im Volltext findet sich die Idee dann auch noch ausführlicher.