Flüchtling, Migrant, oder was? Vorschlag für eine Auftaktstunde zur Orientierung

20160513_154149Dieses Wochenende bin ich auf dem abschließenden Treffen des euroclio-Projekts „Teaching Europe“, in dem im vergangenen Jahr jeweils eine Lehrerin bzw. ein Lehrer aus jedem der 28 Mitgliedsstaaten vier Geschichts- und Politik-/Sozialkundebücher aus dem eigenen Land im Hinblick auf die Darstellung der EU untersucht hat. Die Kommunikationssprache ist Englisch. Somit liegt nun auf Englisch ein großer Fundus von Einzelanalysen vor, der in der Gesamtschau einen einmaligen Überblick über die Darstellung der EU in ausgewählten Schulbüchern aus allen Mitgliedsstaaten bietet. Wie wir die Ergebnisse der gemeinsamen Arbeit weitergeben und veröffentlichen  können, werden wir die kommenden Tage diskutieren.

euroclio macht großartige Arbeit, die in Deutschland vielleicht nicht immer in dem Maß wahrgenommen wird, wie sie es verdient hätte. Alle aktuellen Projekte von euroclio stehen für einen modernen, inhaltlich wie methodisch innovativen Geschichtsunterricht. Wenn die nächste Tage Zeit bleibt, werde ich über die ein oder andere Anregung vom Projekttreffen bloggen. Vorab möchte ich nur eine kleine Idee für eine Unterrichtsstunde weitergeben, die ich gemeinsam mit den Kollegen aus Lettland, den Niederlanden und der Tschechischen Republik heute in der ersten „working session“ erarbeitet habe.

Es handelt sich dabei um eine Einstiegsstunde in das Thema „Migration“ oder „Flüchtlinge“ in historischer Perspektive. Ziele der Stunde sind, dass die Schülerinnen und Schüler verschiedene Ursachen von „Migration“ kennenlernen, verschiedene Formen von Migration (Flucht vor Krieg, Verfolgung, Arbeitsmigration etc.) unterscheiden können und dass sie schließlich erkennen, dass Migration historisch betrachtet der Normalfall und keine Ausnahme ist.

Zum Einstieg erfolgt die Abfrage vorhandener Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler über die Frage „Was ist (deiner Meinung nach) ein Migrant?“. Gegebenenfalls kann dies durch ein Bild als Impuls unterstützt werden. Dabei ist jedoch darauf zu achten, dass das Bild nicrefugees-800pxht zu stark lenkt.

In einem zweiten Schritt erhalten die Schülerinnen und Schüler mehrere Kurzbiographien von Migranten, die sie in Kleingruppen bearbeiten. Sie sollen dabei die Ursachen für das Verlassen des Wohnorts, Veränderungen der Lebenssituation sowie langfristige Folgen herausgearbeiten. Eventuell kann hier gerade bei jüngeren Lernenden ein Arbeitsblatt mit einem vorgebenen Raster hilfreich sein, um die Arbeit mit den Text zu stützen.

Bei der Auswahl der beispielhaften Biographien sollten verschiedene Räume und Zeiten Berücksichtigung finden (z.B. Antike: griech. Kolonien, Mittelalter: Juden evtl. Maimonides, 17. Jahrhundert: Hugenotten, 18. Jahrhundert: Revolutionsflüchtlinge, 19. Jahrhundert: Arbeitsmigration aus Italien, Irland oder der Pfalz, 20: Jahrhundert: Vertreibungen Griechenland, Türkei, Polen, Jugoslawien usw.) Gut ist es auch, wenn ein oder zwei Biografien mit regionalem Bezug zum Schulort dazugenommen werden können. Auf Deutsch finden sich einige Biografien, die sich gut für den Unterricht eignen, allerdings nur die Neuzeit und verschiedene von Formen von „Flucht“, aber nicht Migration allgemein abdecken, auf dem Blog „gefluechtet.de“.

In einem Gruppenpuzzle stellen sich die Schülerinnen und Schüler anschließend in Expertengruppen die verschiedenen Migrationsgeschichten vor. Gemeinsam wird abschließend die Eingangsfrage noch einmal aufgeworfen, um dann festzuhalten, welche unterschiedliche Ursachen und Typen von Migration es gab und gibt.

Diese Stunde bietet als Einstieg bereits einen Überblick über das Thema, an den in den Folgestunden auf verschiedene Art und Weise angeknüpft werden kann: Es können sowohl eine historische Epoche näher betrachtet als auch – z.B. im übergreifenden Fach Gesellschaftslehre – die aktuelle Flüchtlings- „Krise“ mit ihren Ursachen und Folgen in den Blick genommen oder anhand der Familiengeschichten der Schülerinnen und Schüler, auch in scheinbar homogenen Klassen gerade unter Berücksichtigung von „Binnenmigration“, das Thema vertieft werden.

Flucht und Migration als Thema im Geschichtsunterricht

„Schulbücher stellen Zuwanderung zu negativ dar“, so lautete im März 2015, also vor nmigration-is-not-a-crime-800pxicht einmal einem halben Jahr, die Schlagzeile in der ZEIT zu einem Artikel über eine Studie der Integrationsbeauftragten (deren Ergebnisse vollständig als PDF auf den Seiten der Bundesregierung). Weiter heißt es im Artikel die Studie zusammenfassend:

„Ausländer und Flüchtlinge werden in deutschen Schulbüchern immer noch negativ dargestellt. Zuwanderung werde im Sozialkunde- und Geschichtsunterricht, teilweise auch im Fach Geografie immer noch vor allem als „konfliktträchtig und krisenhaft“ beschrieben […] Danach erscheinen Migration und Verschiedenheit in den Büchern in erster Linie als Problem und Herausforderung für eine weitgehend homogen vorgestellte Gesellschaft. Integration werde zwar als notwendig dargestellt, aber nicht weiter konkretisiert und unterschieden.“

Beretis 2012 in der Zeitschrift des Geschichtslehrerverbandes geschichte für heute (2/2012) ein (etwas kurz geratenen) Themenschwerpunkt „Migration“ erschienen, in dem Peter Lautzas durchaus leidenschaftlich auf wahrgenommene Probleme hinweist und für die Aneignung einer positiven Grundhaltung zur Einwanderung wirbt. Lesenswert sind die didaktischen Überlegungen von Bodo von Borries in Historischen Denken Lernen (2008, S. 138-147) ebenso wie der von Bettina Alavi und Gerhard Henke-Bockschatz bereits 2004 herausgebene Tagungsband „Migration und Fremdverstehen“ (Rezension, Inhaltsverzeichnis und Leseprobe als PDF), in dem Wolfgang Hasberg abschließend festhält, dass „Fremdverstehen, Migration und interkulturelle Erziehung in der Geschichtsdidaktik zwar immer wieder diskutiert würden, dass bislang jedoch noch keine ‚konsequente Zusammenschau dieser drei Teilaspekte geleistet‘ worden sei (S. 233).

Aufgegriffen werden können das Thema Migration in allen Epochen und ist damit im chronologischen Durchgang in allen Jahrgangsstufen lehrplankonform integrierbar. In moderner angelegten Curricula, die mit Längsschnitten und Modulen arbeiten, ist in der Regel das Thema „Migration“ mindestens einmal explizit Gegenstand des Unterrichts. Gute Anknüpfungsmöglichkeiten an Standardlehrplanthemen bieten folgende historische Migrationsbewegungen und Begegungsorte, so u.a.:

  • griechische Kolonien,
  • römischer Limes und Völkerwanderungen („invasions barbares“)
  • Ostsiedlung im Mittelalter,
  • Vertreibung der Juden und deren Aufnahme in Polen und im Osmanischen Reich (Mittelalter/16. Jahrhundert),
  • Hugenotten (17. Jahrhundert),
  • europäische Auswanderung in die USA (18./19. Jahrhundert),
  • Adelsemigration während der Französischen Revolution (Koblenz),
  • Ruhrgebiet in der Industrialisierung (besonders die Arbeitsmigration aus den verschiedenen preußischen Territorien),
  • Exil in der NS-Zeit,
  • „Umsiedlung“ nach dem 1. Weltkrieg (z.B. Türkei/Griechenland oder Oberschlesien)
  • Flucht und Vertreibung während und nach dem 2. Weltkrieg (besonders Polen/Ukraine/Deutschland),
  • Anwerbeabkommen und „Gastarbeiter“ in den 1950er, 60er und 70er Jahren
  • sowie Flucht aus der DDR.

An den jeweiligen historischen Migrationsbewegungen lassen sich Ursachen, Auslöser, Mittel und Wege analysieren und miteinander oder mit heutigen Beispielen vergleichen. Begegnung und (gegenseitige) Fremdheitserfahrung, Ankunft und Aufnahme sowie die Spannung zwischen den Polen Abgrenzung und Assimilation können gleichfalls an zahlreichen Quellen untersucht werden. Wichtig erscheint mir, dass im Geschichtsunterricht deutlich wird, dass vermeintlich homogene, historisch unveränderte Gesellschaften eine Fiktion, Migration weder ein modernes Phänomen und noch eine Ausnahme, sondern der Normalfall ist.

Dazu passt der Ansatz, den Europäische Geschichte Online (EGO) verfolgt, der aber bislang nur kaum Anwendung auf Ebene des Geschichtsunterrichts gefunden hat. Unter dem Titel „Europa unterwegs“ sind dort einige interessante Beiträge zu Reisen und Migrationsbewegungen in der europäischen Geschichte zusammengestellt.

Die Besonderheit des Projekts ist der Forschungsansatz, „Prozesse interkulturellen Austauschs in der europäischen Geschichte […], die über staatliche, nationale und kulturelle Grenzen hinauswirkten“ (http://ieg-ego.eu/de/ego) in den Blick zu nehmen und „Europa als einen stets in Wandlung befindlichen Kommunikationsraum, in dem vielgestaltige Prozesse der Interaktion, Zirkulation, Überschneidung und Verflechtung, des Austauschs und Transfers, aber auch von Konfrontation, Abwehr und Abgrenzung stattfanden“ (ebd.) zu beschreiben.

http://ieg-ego.eu/de/threads/europa-unterwegs

In einem der ersten Blogbeiträge vor über sechs Jahren hatte ich bereits auf verschiedene Internetportale hingewiesen, die Informationen und Materialien zu historischen Aspekten von Migration bieten. Die Links habe ich geprüft und sofern notwendig aktualisiert.

Hier folgen nun noch einmal Links zu Materialien für den Unterricht. Weitere Hinweise auf online verfügbare Quellensammlungen und Unterrichtsideen bitte gerne über die Kommentarfunktion hinzufügen!

Auf den Seiten der Geschichtsdidaktik der Universität Erlangen findet sich eine Handreichung für Lehrkräfte mit dem Titel „Migrationsgeschichte. Sammeln, sortieren und zeigen“, die von Gesa Büchert und Hannes Burkhart herausgegeben und großteils auch verfasst wurde. Sie kann als PDF heruntergeladen werden:

http://www.geschichtsdidaktik.ewf.uni-erlangen.de/migrationsgeschichte.pdf

Gleichfalls eine „Handreichung für Unterricht und Bildungsarbeit“ bietet das Netzwerk Migration in Europa an. Der Schwerpunkt liegt auf der Gegenwart, es gibt aber auch Module zur Emigration der 1930er und 40 er Jahre sowie zur Genfer Flüchtlingskonvention von 1951:

http://www.migrationeducation.org/fileadmin/uploads/Broschuere_Deutsch_2.Auflage_01.pdf

Hilfreich vor einer unterrichtlichen Beschäftigung mit dem Thema „Migration“ ist auf jeden Fall die Lektüre der Überlegungen zur „Kulturalisierungsfalle“, die sich begleitend zur (Online-) Ausstellung „Deutsch-Osmanische Verflechtungen und Armeniergräuel im Ersten Weltkrieg“ finden. Dort sind auch aktuelle weiterführende Literaturangaben speziell zu Geschichtsdidaktik und -unterricht:

https://www.blogs.uni-mainz.de/fb07-armeniergreuel/didaktische-ueberlegungen/kulturalisierungsfalle-2/

Zunächst ist das aktuelle Projekt gefluechtet.de zu „Ursachen, Lebenssituation und Umgang mit Flucht“ zu nennen. Das kollaborativ verfasste Blog dokumentiert Biografiegeschichten von Flüchtlingen in Vergangenheit und Gegenwart und ist offen zur Mitarbeit.

Eine umfangreiche Sammlung zu Projekt- und Unterrichtsideen sowie Materialien zu „Exil, Fremdsein und Migration“ bietet weiterhin der Exil-Club, dessen letztes Update allerdings bereits Mitte 2007 erfolgte, so dass mit Sicherheit einige der Links nicht mehr funktionieren werden:

http://www.exil-club.de/dyn/411.asp?Aid=248&Avalidate=96477687&&cache=4053

Die Bundeszentrale für politische Bildung hat aktuell ein Dossier mit verschiedenen Beiträge zum Thema „Flucht und Asyl“ zusammengestellt: http://www.bpb.de/lernen/themen-im-unterricht/212843/flucht-und-asyl

Ebenso bieten Die Zeit wie auch die FAZ speziell für Schulen Texte und Materialien allgemein zum Thema „Migration“ an:

http://www.zeit.de/gesellschaft/schule/2015-03/zuwanderung-schulunterricht-lehrmaterial

http://www.fazschule.net/project/die-welt-in-bewegung2011

Didaktische Überlegungen insbesondere zur Landesgeschichte: Ulrich Maier, Migration als Thema der Landesgeschichte, in: Landesgeschichte in Forschung und Unterricht 1, herausgegeben vom Württembergischen Geschichts- und Altertumsverein, Kohlhammer, Stuttgart 2005, S. 9-23. http://www.schule-bw.de/unterricht/faecheruebergreifende_themen/landeskunde/modelle/epochen/neuzeit/migration/migration-als-thema.pdf

Unterrichtsideen, didaktische Überlegungen und Materialien in: Deutschland & Europa 45 (2004): Migration http://www.deutschlandundeuropa.de/45_02/Migration.pdf

Zu den Hugenotten am Beispiel der Familie De Maizière schreibt Charlotte Jahnz auf gefluechtet.de: http://gefluechtet.de/wp/2015/09/25/vom-religionsfluechtling-zur-funktionselite/

Eher touristisch angelegt, aber geradea deshalb mit geschichtskultureller Perspektive auch für den Unterricht nutzbar ist der sogenannte „Hugenotten und Waldenser-Pfad“: http://www.hugenotten-waldenserpfad.eu/

Eine Unterrichtseinheit vom Deutschen Polen-Institut im Rahmen seiner Veröffentlichungen „Polen in der Schule“ beschäftigt sich mit der Ostsiedlung im Mittelalter: http://www.poleninderschule.de/assets/polen-in-der-schule/downloads/arbeitsblaetter/Gesamtdatei-Ostsiedlung.pdf

Dort auch zur polnischen Emigration im 19. und 20. Jahrhundert: http://www.poleninderschule.de/assets/polen-in-der-schule/downloads/arbeitsblaetter/p-migration-01-didaktikliteratur01.pdf

Siehe dazu auch: Hellmuth Vensky, Polen prägten das Ruhrgebiet. Schimanskis Väter, in: Die Zeit Online, 2. März 2010, http://www.zeit.de/wissen/geschichte/2010-02/ruhr-polen/komplettansicht

Zur Auswanderung nach Nordamerika sei auch noch auf einen älteren Beitrag hier im Blog verwiesen: https://geschichtsunterricht.wordpress.com/2011/03/09/auswanderung-und-assimilation/

Siehe dazu auch: Bernd Brunner, Deutsche Massenmigration: Der große Aufbruch, in: : http://www.zeit.de/zeit-geschichte/2011/03/Massenauswanderung/komplettansicht

Zur rheinland-pfälzischen Landesgeschichte auf die umfangreichen Seiten zum Thema „Auswanderung“. Neben den USA sind Brasilien, Osteuropa und das Exil während der NS-Zeit weitere Schwerpunkte: http://www.auswanderung-rlp.de/startseite.html

Koblenz als Zentrum der Emigration des französischen Adels 1791/1792:

Rhein-Zeitung: http://www.rhein-zeitung.de/region/lokales/koblenz/stadtgeschichte_artikel,-Teil-24-Koblenz-Zentrum-der-Royalisten-_arid,364571.html

regionalgeschichte.net: http://www.regionalgeschichte.net/bibliothek/texte/aufsaetze/thielen-katharina-emigrationszentrum-koblenz.html

Landeshauptarchiv: http://www.lha-rlp.de/index.php?id=367

Buch & Tagung: Kulturkonflikte – Kulturbegegnungen

„Neue Impulse für die interkulturelle Geschichtsdidaktik“: Tagung 20./21. Mai 2011 in Berlin (Den Flyer zur Veranstaltung inklusive Programm gibt es hier als PDF.)

Ein im Hauptitel gleichnamiges Buch herausgegeben von Gisbert Gemein ist bei der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen. Das Buch heißt im Gegensatz zur Tagung im Untertitel „Juden, Christen und Muslime in Geschichte und Gegenwart“.

Das Buch habe ich noch nicht gesehen, aber ob hier wirklich „neue“ Impulse für die Fachdidaktik gegeben werden, scheint mir angesichts des Tagungsprogramms zumindest fraglich. Allerdings können die Veröffentlichung und in kleinerem Umfang auch die Tagung dazu beitragen, die bestehende Kluft zwischen Theorie und Praxis des interkulturellen Geschichtslernens in der Schule zu verkleinern.

PS. Interessant übrigens, dass, obwohl die Diskussionspodien sehr heterogen besetzt sind, die universitäre Geschichtsdidaktik vollkommen fehlt.

Auswanderung und Assimilation?

Zunächst wussten sie wenig von dem fernen Land. Einige wurden gezielt zur Ansiedlung in bestimmten Städten und Regionen angeworben. Mittlerweile leben sie dort schon seit Generationen, geben aber dennoch ihre Sprache nicht auf, sondern von Generation zu Generation weiter. Das ist gut möglich, weil sie eigene Gemeinschaften bilden, ihre eigenen Geschäfte haben und auch eigene Sport-, Musik- und Geselligkeitsvereine. Entsprechend haben sie auch eine eigene Presselandschaft, die über die Ereignisse in ihren Herkunftsregionen berichtet und das politische  Meinungsspektrum abdeckt. Sie haben ihre Heimat verlassen aus wirtschaftlichen Gründen, weil sie sich in der Fremde ein besseres Leben erhofften, oder aus politischen Gründen, weil sie in der Heimat wegen ihrer politischen Ansichten überwacht, zensiert oder sogar inhaftiert wurden.

Es sind vor allem Handwerker, Kleinbauern und Arbeiter aus armen, ländlichen Gebieten, die auswandern. Studierte Rechtsanwälte, Ärzte oder Lehrer sind nur wenige dabei. Kaum jemand beherrscht bei Ankunft die Landessprache. Oft gehen einige Wagemutige vor, andere, vor allem Familienmitglieder, Freunde und Nachbarn kommen später nach und siedeln in der Nähe. So entstehen nach und nach kleine Stadtviertel, die nach ihrem Herkunftsland benannt sind: little Germanies.

Die Rede ist offensichtlich nicht von z.B. der türkischen Migration der letzten Jahrzehnte nach Deutschland, sondern von der Geschichte der deutschen Auswanderung, hier exemplarisch insbesondere der in die USA im 19. Jahrhundert. Aufmerksam geworden auf die offenkundigen Ähnlichkeiten bin ich durch einen Vortrag von Roland Paul vom Institut für pfälzische Geschichte auf dem Tag des Geschichtsunterricht an der Universität Saarbrücken.

Nicht nur angesichts der aktuellen Debatten um die Aussagen von Friedrich, Erdogan und zuletzt Seehofer scheint mir dies ein Thema zu sein, das im Geschichtsunterricht aufgegriffen und besprochen werden sollte, weil es die Schülerinnen und Schüler zur (aus historischer Sicht kompetenten) Teilnahme an der gesellschaftlichen Debatte befähigt. Geschichte als politisches Argument ist immer problematisch. Besonders an den Äußerungen des neuen Innenminister ist zu sehen, wie wichtig es ist, Migration nicht als Sonder-, sondern als Normalfall zu begreifen. Es gilt ggf. vorhandene naive Vorstellungen einer statischen Gesellschaft durch dynamische Konzepte zu ersetzen.

Viele Gegenden des späteren Deutschlands, wie z.B. die Pfalz, waren im 19. Jahrhundert vor allem Auswanderer-Regionen. Das Festhalten an den regionalen Traditionen (Kirmesfeiern, Karnevalsgesellschaften) und der eigenen Sprache durch die deutschsprachigen Auswanderer wird in der Literatur interessiert betrachtet und durchaus positiv gewertet (i.S. von „Es ist ihnen gelungen, ihre Sprache zu bewahren“ statt „Sie waren unfähig/unwillig, sich zu integrieren“). Die Vergleichbarkeit liegt auf der Hand, wird von den Familien- und Volkskundlern in der Regel nicht geleistet.

Spannend ist die sehr unterschiedliche Bewertung der beiden Phänomene (positiv das vermeintlich Eigene, negativ das Neue, Andere). Von der durch den Vergleich hervorgerufenen kognitiven Dissonanz, die auch bei den Schülern zu erwarten ist, sowie den Erfahrungsgeschichten von Kindern mit Migrationshintergrund kann der Geschichtsunterricht profitieren.

Als Material eignen sich Auszüge aus deutschsprachigen Zeitungen, wie z.B. den von Conrad Voelcker herausgegebenen „Hessischen Blättern“ oder „Der Pfälzer in Amerika“. Ideal für den Unterricht sind die Werbeanzeigen für die Geschäfte und Volksfeste, da diese leicht zu lesen sind und zugleich den „Community“-Charakter offenbaren. Zu finden sind solche z.B. im Buch von Roland Paul und Karl Scherer, Pfälzer in Amerika – Palatines in America, Kaiserslautern 1995. Davon ausgehend kann das Thema je nach Altersstufe vertiefend behandelt, Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede herausgearbeitet werden.

Der historische Vergleich und die Wahrnehmung der Ähnlichkeiten könnten zu einer gelasseneren Haltung in der Integrationsdebatte beitragen. Wobei ein im Sinne der Integration positiver Ausgang entsprechend dem historischen  Vorbild natürlich keineswegs garaniert ist.  Es bedarf dazu gemeinsamer gesellschaftlicher Anstrengung aller Beteiligten.

Bedenkenswert in diesem Hinblick erscheint mir übrigens das Teilfazit der RLP-Ausstellung zur Auswanderung. Dort heißt es:  „Ethnisch geprägte Viertel, wie ‚Little Germany‘ in New York oder ‚Over the Rhine‘ in Cincinnati, deutsche Schulen, Zeitungen und Kirchengemeinden erleichterten den Immigranten zwar die Integration, zugleich wurden sie jedoch als ‚Zeichen mangelnder Anpassungsbereitschaft und als Rückzug in eine vermeintlich homogene ethnische Kultur verstanden. […] Um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert stellten deutsche Einwanderer und ihre Kinder zehn Prozent der US-Bevölkerung. Die meisten Immigranten waren schon seit Jahrzehnten im Land, und es gab kaum noch Zuzüge aus Deutschland, die dem ethnischen Gemeinschaftsleben hätte neue Impulse geben können. Die Heterogenität der Deutsch-amerikaner, ökonomische Integration und die fortgeschrittene Akkulturation führten insbesondere in städtischen Gebieten zum Verfall der Identität.“

Im übrigen sollte man nicht auf den Kurzschluss verfallen, dass es in den USA, die sich als Einwanderungsland verstanden, keine Konflikte gegeben habe. Vielmehr sind schon im 18. und 19. Jahrhundert zahlreiche Belege für die Artikulation von Vorurteilen und „Überfremdungsängsten“, ganz ähnlich zu denen von heute, zu finden.

Es gibt zudem einige Seiten im Internet zum Thema, die sich auch im Unterricht einsetzen lassen:

Auswanderung aus den Regionen des heutigen Rheinland-Pfalz

Heimat Pfalz – Auswanderung

Zeitung: Buffalo Volksfreund (digitalisiert ab 1891)

Archivaria – the history of Buffalo, New York (digitalisierte Quellen)

Goethe-Institut: German-american site in Chicago

Palatines to America

Deutsch-Pennsylvanischer Arbeitskreis

Falls jemand noch Links zu thematischen Materialien oder zu weiteren digitalisierten deutschen Zeitungen aus den USA hat, wäre ich für Hinweise dankbar und nehme diese gerne hier auf.

Photo @dougtone auf Flickr

2. Tag des Geschichtsunterrichts an der Universität Saarbrücken

Gestern fand an der Universität Saarbrücken der 2. Tag des Geschichtsunterrichts statt. Mit etwas mehr als 20 Teilnehmern war die Veranstaltung leider nicht sonderlich gut besucht, obwohl das Oberthema „Migration“ als auch das breite Workshopangebot durchaus interessant war. Es wäre den Organisatoren zu wünschen, dass durch eine Etablierung des Angebots in den Folgejahren auch mehr Teilnehmer kommen. Vielleicht könnte eine stärkere fachdidaktische Ausrichtung die Tagung für Lehrkräfte attraktiver machen.

Da mein Workshop zwei Mal stattfinden sollte, für das Panel am Morgen aber keine Anmeldungen vorlagen, hatte ich das Glück spontan selbst noch einen Workshop besuchen zu können. Akin Aslan und Franz Josef Koenen vom Verein Multikultur in Völklingen boten einen interessanten Vortrag zum Thema „Geschichtsbewusstsein unter dem Aspekt der Migration“. Während Koenen  einen Überblick über die „Zuwanderung nach Deutschland“ seit 1955 gab, stellte Aslan Ergebnisse einer Befragung von Schülern einer 9. Klasse vor. Leider blieb für die sich anschließende Diskussion, was die Beobachtungen und Befunde für den Geschichtsunterricht bedeuten könnten, zu wenig Zeit.

Anbei auch noch die Präsentationsfolienmeines Workshops und ein großes Dankeschön an die Teilnehmer für die sehr konstruktiven Rückmeldungen:

Zweiter Tag des Geschichtsunterrichts

Hier folgt heute noch eine Tagungsankündigung, wo ich mich zudem freue, auch selbst beitragen zu dürfen: Der 2. Tag des Geschichtsunterrichts an der Universität des Saarlandes am 15.2.2011 steht unter dem Oberthema „Menschen in Bewegung: Auswanderung, Einwanderung, Binnenwanderung“. Das Programm und weitere Infos finden sich hier.

Online-Museum zur Migration

Wer es noch nicht kennt, der Blick lohnt: Lebenswege heißt das Online-Migrations-Museum Rheinland-Pfalz. Die Seiten sind im nüchternen Corporate Design des Landes gehalten und bieten eine Fülle von Informationen zur Geschichte der Migration im 20. Jahrhundert: kurze Texte, die  in die Themen einführen, und zahlreiche digitalisierte Quellen (vor allem Fotos und Zeitungsausschnitten). Das Herzstück  sind Beschreibungen von „Lebenswegen“, die mit Bildern und Dokumenten aus dem Privatfundus und Audioausschnitten aus Gesprächen anschaulich präsentiert werden. Die Seiten eignen sich sowohl für den Einsatz in der Mittel- wie Oberstufe. Gleichfalls hilfreich für den Unterricht sind die Überblicke zu Literatur und Filmen, die Geschichte und Aktualität der  Migration in Deutschland thematisieren.

Neues TwHistory Projekt

Startschuss für ein neues historisches Reenactment Projekt auf Twitter:

Nach der Schlacht von Gettysburg und der Kubakrise nehmen sich die amerikanischen Macher von TwHistory nun einem Pioniertrek der Mormonen an. 1847 zogen 147 Siedler, darunter drei Frauen und zwei Kinder, von Omaha, Nebraska, gen Westen über die Rocky Mountains. Aufgrund von Originalquellen, Briefen und Tagebüchern, wird der Zug der amerikanischen Siedler Tag für Tag rekonstruiert und auf Twitter zusammenfassend nachgestellt. Das Projekt beginnt heute, am 5. April und endet am 24. Juli mit der Ankunft am großen Salzsee, im Salt Lake Valley des heutigen Utah. Zu diesem Zeitpunkt gehörte das Gebiet noch zu Mexiko und wurde erst im Februar 1848  Teil der USA. Wer die Kurznachrichten aus der Vergangenheit lesen möchte, muss nur den entsprechenden Personen, aufgrund der Quellenlage ausgewählte Pioniere des Treks, auf Twitter folgen. Die Liste der Teilnehmer findet sich hier. Um diese und die Tweets zu sehen, ist allerdings eine vorangehende Anmeldung auf Twitter notwendig.

Pioneer cabin 1847, Oregon State University Archives.

Steinbach verzichtet

Die deutsch-polnische Geschichte bildet ja neben Medien und Geschichtsunterricht einen kleinen, weiteren Schwerpunkt innerhalb dieses Blogs. Die Besprechung des Buches „Zwangsumsiedlung, Flucht und Vertreibung“ hier im Blog hatte in den letzten Wochen sehr hohe Trefferzahlen zu verzeichnen. Deshalb zum Thema hier kurz der Hinweis auf einen aktuellen Artikel aus Frankfurter Rundschau, die einen „Kompromiss zum Vertriebenen-Rat“ meldet und SZ: Steinbach verzichtet auf einen Sitz im Stiftungsrat. Der Bundestag soll die Besetzungen vornehmen, dafür wirdaber die Zahl der Sitze für den Bund der Vertriebenen von drei auf sechs in dem bisher 13- bald 21köpfigen Rat erhöht. Außerdem wurde einer Vergrößerung der Grundfläche der Ausstellung vereinbart. Der BdV sieht in dem Kompromiss einen „Riesenerfolg“.

Indian Ocean in World History

IndianOceanHistory ist ein großartiges, englischsprachiges Portal zur Geschichte des Indischen Ozeans in globaler Perspektive. Das Portal bietet interaktive Karten von der Antike bis heute, über die zunächst der geographische Raum des indischen Ozeans definiert sind und die in jeder Großepoche mit Mouseover-Buttons Informationen zu verschiedenen Schwerpunkten wie Karten, Reisende, Handelsgüter usw. bieten.

Es gibt zudem für Schüler und Lehrer einleitende Texte (im pdf-Format) sowie weitere Leseempfehlungen. Für den Einsatz im Unterricht werden darüber hinaus Unterrichtsanregungen und Aufgaben angeboten.

Für interessierte Schülergruppen mit entsprechenden Englischkenntnissen (d.h. wohl wenn für bilinguale Schulzweige und Leistungskurse) bietet die Seite eine hevorragende Möglichkeit, die eurozentrische Perspektive zu verlassen und eine andere Weltregion vergleichend in den Unterricht hinzuzunehmen. Da davon auszugehen ist, dass auch die wenigsten Geschichtslehrer  sich in der Geographie und der Geschichte des Raums gut auskennen, eignen sich die optisch schön gestalteten Seiten gut, um sich selbst erstmals mit dem Thema und der Region auseinanderzusetzen und damit seinen eigenen Horizont zu erweiteren.