In den letzten beiden Wochen bin ich mehrfach darauf gestoßen und habe das Thema verschiedentlich diskutiert. Die Gedanken sind sicher noch nicht ausgereift, aber genau dazu scheinen Blogs gut geeignet: um laut zu denken und kleinere Beobachtungen oder Gedanken zur Diskussion zu stellen. Die Beiträge mit den unausgegorenen Ideen waren für mich persönlich bislang oft die mit den spannendesten und weiterführenden Diskussionen.
Um die Anstöße aufzuzeigen und nachvollziehbar zu machen hier eine kleine Chronologie der Ereignisse: Zunächst war da die Debatte um die Veröffentlichung von kommentierten Auszügen aus „Mein Kampf“, dann eine Forsa-Umfrage des Stern zu „Auschwitz“, daran anschließend die Forderungen von Charlotte Knobloch nach neuen Konzepten für den Geschichtsunterricht, einer Anfrage und einer spannenden Diskussion dazu mit einem Journalisten sowie, vorerst abschließend, eine sehr anregende, leider für die spannenden Inhalte viel zu kurze Fortbildung letzte Woche am PZ in Frankfurt zu aktuellen Jugendbüchern über den Holocaust.*
Die Forderungen nach neuen Konzepten für den Geschichtsunterricht wundert mich. Ich würde sagen, die Konzepte sind da (siehe u.a. im Blog von Lisa Rosa mit einer interessanten Diskussion) und sie sind nicht alle neu. Ich kann die Forderung , ehrlich gesagt, nicht nachvollziehen: Weder in der Geschichtsdidaktik noch in Lehrplänen, Schulbüchern oder, soweit ich das überblicken kann, der Unterrichtspraxis geht es heute um „Betroffenheit“. Eine „Betroffenheitspädagogik“ jeder Art scheint mir längst überholt und überwunden. Gleiches gilt auch für die Gedenkstättenpädagogik (siehe dazu den Beitrag von Mathias Heyl im LaG-Magazin vom Januar 2012).
Dennoch scheint der eine oder andere (hier stellvertretend Frau Knobloch und Harald Welzer im Gedenkstättenrundbrief 8/2011) eine solche auf „Betroffenheit“ zielende Praxis weiter zu beobachten. Wie kann das sein?
Sicher klafft zwischen Konzepten und ihrer Umsetzung in der Praxis eine Lücke, die dadurch vergrößert werden kann, dass junge Lehrkräfte trotz Uni und Referendariat oft Unterrichtskonzepte reproduzieren, die sie selbst als Schülerinnen und Schüler erlebt haben. Zudem thematisiert der Geschichtsunterricht die Judenverfolgung erst viel zu spät (in der Regel in Klasse 9 oder 10). Das ist bedingt durch den chronologischen Aufbau, der vom Altem zum Neuen schreitet. Die Schülerinnen und Schüler interessieren sich aber schon viel früher für das Thema. Nach meiner Erfahrung kommen sie auch mit der Erwartung in das neue Fach Geschichte, hier etwas über „Hitler“ oder „die Juden“ zu lernen. Erwartungen, die dann aber enttäuscht und auf eine Zeit in vier oder fünf Jahren vertröstet werden. Wenn dann das Thema im Geschichtsunterricht „drankommt“, sind wesentliche Einstellungen schon geprägt und je nach Gruppe das ursprüngliche Interesse manchmal bereits gesättigt.
Zudem muss man sich klar machen, wieviel Einfluss das Fach Geschichte mit 1-2 Stunden pro Woche auf die Kenntnisse und Einstellungen von Jugendlichen tatsächlich hat. Schon im Kanon der schulischen Fächer nimmt es mittlerweile einen der kleineren Plätze ein, in vielen Schularten und Bundesländern ist es zudem als eigenständiges Fach in der Sekundarstufe I ganz abgeschafft und für die Behandlung von Nationalsozialismus und Holocaust stehen wohl im Schnitt 12-18 Stunden Unterrichtszeit zur Verfügung. Verlässt man die Schule und erweitert das Blickfeld muss man sich eingestehen, dass „Holocaust im Geschichtsunterricht“ für den durchschnittlichen Jugendlichen wohl eine völlige Marginalie darstellt. Hier konzeptionelle Veränderungen zu fordern ist also nicht nur angesichts der tatsächlichen Möglichkeiten des Geschichtsunterrichts sowie sehr wohl exisitierender Konzepte, z.B. der Holocaust-Education, allenfalls wohlfeil und wenig weiterführend.
Bedient wird das hohe Interesse der Kinder durch die mediale Präsenz des Themas – Guido Knopps Geschichts-TV-Maschinerie hat nicht ohne Grund so viele junge Zuschauer – und zwischen der 5. und 7. Klasse oft auch durch eine Holocaust-Jugendbuch-Lektüre im Deutschunterricht. Beiden Zugängen gemeinsam ist der hohe Grad an Personalisierung und Emotionalisierung. Und vielleicht, aber das ist nur eine Vermutung, liegt hier vielmehr als bei dem vermeintlich naheliegenden Geschichtsunterricht das Fortbestehen einer „Vermittlung historischen Wissens mit einer moralischen Gebrauchsanweisung“ statt aktiver „Aneignungsprozesse und […] Entwicklung eigenständiger Deutungen und Bewertungen“ (Welzer).
Ein Hinweis darauf, dass dem so sein könnte, zeigt sich für mich in der Tatsache der anhaltenden Popularität von „Damals war es Friedrich“ als Lektüre im Deutschunterricht der unteren Klassen, obwohl es viele gute Gründe gibt, dieses Buch von 1961 nicht mehr einzusetzen (siehe den Beitrag von Ulrike Schrader hier als PDF). In der Fortbildung letzte Woche verteidigten mehrere Kolleginnen in der Runde den Einsatz des Buchs auch sinngemäß mit den Worten, dass das Buch „gut im Unterricht funktioniere“, weil es bei den Schülerinnen und Schüler „so viel Emotionen“ hervorrufe. Vielleicht bin ich da überkritisch, aber ich höre in diesen Äußerungen Betroffenheit als übergeordnetes Unterrichtsziel, das zumindest Geschichtsdidaktiker und -lehrer ad acta gelegt glaubten.
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*Auf die Anregung habe ich mir im Anschluss an die Fortbildung direkt von Uri Orlev, Lauf, Junge, lauf gekauft und in zwei Tagen regelrecht verschlungen. Das Buch scheint mir für den Unterricht absolut empfehlens- und darüber hinaus auch sonst einfach lesenswert. Aus geschichtsdidaktischer Sicht ist vor allem hervorzuheben, dass das Buch den Protagonisten als aktiv handelnden Juden und auch Handlungsspielräume anderer Personen(gruppen) aufzeigt, die Grenzen zwischen „gut“ und „böse“ nicht einfach sind, sondern viel Grauzone bleibt und in den einzelnen Episoden der Flucht zahlreiche Personengruppen und Ereignisse thematisiert werden, die im Geschichtsunterricht aufgegriffen werden können, wo sie sonst auch oft zu wenig Beachtung finden, wie u.a. das Warschauer Ghetto, polnische Partisanen , Kollaboration oder Zionismus.
Sollte meine Kollegin aus Sicht einer Deutschlehrerin die Lektüre ebenso gut finden und die Schulleitung unseren Wunsch berücksichtigen können, werden wir das Buch im nächsten Schuljahr mal in einem fächerübergreifenden Projekt mit einer 7. Klasse lesen.