Quellen im Geschichtsunterricht – Beobachtungen aus der Praxis Teil 1

Zu Beginn der rheinland-pfälzischen Sommerferien durfte ich erstmalig an der Universtität Koblenz einen Vortrag halten. Im Rahmen der Vortragsreihe „Clio im Cyberspace“ habe ich einen Blick auf die Veränderungen von Quellen durch die Digitalisierung im Geschichtsunterricht geworfen. Den Vortrag habe ich relativ frei gehalten, die zentralen Gedanken habe ich hier für das Blog noch einmal neu zusammengefasst. Aus der Praxisperspektive als Geschichtslehrer und Schulbuchautor gibt der Vortrag zunächst einen Überblick, in welcher medialen Form Schülerinnen und Schüler im Unterricht Quellen, wie u.a. Texte, Bilder oder Gegenstände, dargeboten werden. Darauf aufbauend werden die Chancen, Grenzen und mögliche Probleme digitalisierter Quellen für historisches Lernen in der Schule diskutiert.

Schaut man sich moderne Schulbücher an, enthalten diese vor allem Textquellen und Bildquellen. Die Textquellen sind in der Regel transkribiert, falls nötig, übersetzt, oft sprachlich vereinfacht, und zumeist auch (stark) gekürzt.

Die unterschiedliche Gattungen von Bildquellen (u.a. Gemälde, Fotos, Plakate, Karikaturen, Zeitschriftencover) werden teilweise als Arbeitsmaterial mit Aufgaben, teilweise nur zur Illustration abgedruckt. Leider fehlen weiterhin in vielen Schulbüchern ausreichende Quellenangaben zu den Bildern. Die Trias von Autorenname, Entstehungsjahr und Titel ist – auch wenn oft mit einer einfachen Google-Suche herauszufinden – sind nicht immer angegeben. Manchmal gibt es die entsprechenden Angaben nicht, dann wäre aber z.B. ein „Autor/Künstler/Jahr unbekannt“ besser als die übliche Auslassung.

Gegenständliche Quellen finden sich auch in Schulbüchern, naheliegenderweise nur als Bild im Buch. Behandelt werden sie als Abbild: „Das ist…“ – wobei mir immer wieder das berühmte Bild von Magritte in den Sinn kommt: „Ceci n‘est pas une pipe.“

Wenig bis selten bieten Schulbücher Verweise auf Filme als Quellen, auch wenn diese im 20. Jahrhundert Relevanz. Das ist zum einen ein mediales Problem: Im Buch kann nur ein Bild, z.B. eine Filmszene oder ein Filmplakat gezeigt werden, ein Filmausschnitt kann nur z.B. über einen Link auf eine Internetseite mit dem Druckwerk verknüpft werden. Bei digitalen Schulbüchern ist das allerdings auch anders, z.B. durch Einbettung möglich. Zum anderen werden Filme oft recht unkritisch (wie u.a. Britta Wehen gezeigt hat) als ergänzende und zusammenfassende Darstellungen oder zur „Auflockerung“ eingesetzt, viel seltener als wirkliches Arbeits- und Lernmaterial.

Im schulischen Geschichtsunterricht gibt es darüber hinaus weitere Quellen und andere Medienformate, doch auch diese bleiben aufgrund u.a. des zeitlichen Aufwands mehr oder weniger seltene Ausnahmen:

z.B. Exkursionen zu historischen Orten, Überreste und Gebäude, Städte als historische Räume auch mit Denkmälern, Besuch von Museen oder Projekttage in Archiven.

Soweit ich das überblicke, finden sich bisher noch gar nicht originär digitale Quellen im Unterricht. Diese werden allerdings zukünftig auch eine Rolle spielen, wenn der Zeitraum nach 1990, und dann insbesondere ab 2000 Teil des Geschichtsunterrichts werden wird.

Gleiches wie für Schulbücher gilt ebenso für Quellen auf Arbeitsblättern, Kopien und sonstigen gedruckten Zusatzmaterialien, die Lehrer selbst erstellen oder die von Verlagen für den Geschichtsunterricht angeboten werden. In der Regel mediale Transformationen, die den Merkmalen von Quelleneditionen im vordigitalen Zeitalter des Buchdrucks. Speziell für Schulbücher und andere Lernmaterialien sind diese zudem geprägt durch Knappheit, es fehlt an Platz und im Unterricht auch gefühlt an Zeit, was zu einer begrenzten und sich kanonartig wiederholenden Auswahl und zu starken Kürzungen der Texte führt.

Die Digitalisierung als historischer Prozess und auch als Akt des Umwandeln analoger Repräsentationen in digitale Formate ermöglicht aufgrund der hohen Speicherkapazitäten und der ubiquitären Verfügbarkeit genau das Gegenteil, nämlich: Überfluss, und zwar nicht nur bei der Recherche, wo heute die hauptsächliche Schwierigkeit nicht mehr das Finden, sondern das Filtern und Bewerten der Funde ist, sondern auch was die der Verfügbarkeit von Quellen angeht.

Welche Bedeutung hat nun die Medialität von Quellen für die Strukturierung und Gestaltung des Geschichtsunterrichts und welche Bedeutung hat sie für das Lernen? Am besten lässt sich dies beantworten, wenn man verschiedene mediale Formate bzw. Transformationen miteinander vergleicht. Diese medialen Transformationen von Quellen ähneln „Aggregatzuständen“ (Bernsen/Spahn 2015). Diese Metapher lässt sich am besten veranschaulichen, wenn man z.B. an einer Textquelle aufzeigt, was damit gemeint ist:

Die Originalquelle ist z.B. ein Brief von A an B, geschrieben an einem spezifischen Datum an einem bestimmten Ort z.B. mit Tinte auf Papier. Diese Quelle ist eingebunden in einen besonderen Überlieferungskontext, der für ihre Einordnung und Interpretation hilfreich, wenn nicht sogar je nach Fragestellung sogar entscheidend sein kann.

Eine erste Transformation stellt das Abtippen bzw. Drucken des Briefs dar z.B. in einer Quellenedition: Der Originalwortlaut wird beibehalten, die Metadaten und ggf. in der wissenschaftlichen Quellenedition auch der Überlieferungskontext werden angegeben, aber trotzdem findet ein Verlust durch diese Transformation statt, da der Brief seine Materialität verliert und damit wesentliche Merkmale, die in der gedruckten Version nicht mehr untersucht werden können. Ein Brief verliert durch diese Transformationen fast alle äußeren Merkmale, die zahlreiche Qualitäten (z.B. alles Haptische wie seine Materialität, aber auch Geruch oder Farbe) und Informationen (u.a. Größe, Handschrift, Randbemerkungen, verwendetes Material) enthalten.

Ein Abdruck in einem Schulbuch würde weitere Transformationen mit sich bringen: Kürzungen, ggf. sprachliche Vereinfachungen, Übersetzung, Entkontextualisierung in Bezug auf die Überlieferung, zugleich aber eine Re-Kontextualisierung im Rahmen der Doppelseite im Schulbuch, das den Inhalte eine veränderte und spezifische Bedeutung zuschreibt, die hier an einen von den Autoren bzw. der Verlagsredaktion intendierten Lernprozess gekoppelt ist.

Ein solcher Brief kann den Lernenden noch in einem anderen „Aggregatzustand“ begegnen, wenn er ihnen z.B. nur vorgelesen oder zum Hören über Audio-Datei präsentiert wird. Quellen wie Darstellungen können also in unterschiedliche mediale „Aggregatzustände“ transformiert werden. Hierbei gehen nicht nur äußere Merkmale verloren, sondern es kommen neue hinzu: wie z.B. Klang, Akzent und Betonung beim Vorlesen.

Digital könnte der Brief wiederum auch als eingescannte Bilddatei vorliegen, die neben einem Faksimile im Druck dem Original am nächsten kommt, das Originalerscheinungsbild bleibt erhalten, wenn auch trotzdem mit der fehlenden Materialität ein Informationsverlust mit der medialen Transformation einhergeht.

Für diese Transformationsmöglichkeiten gibt es allerdings auch Grenzen: Ein Brief aus dem 19. Jahrhundert kann zwar digitalisiert werden und behält als Digitalisat einige seiner äußeren Merkmale, die bei einem Abdruck hingegen verloren gehen, ist aber nie originär digital. Umgekehrt sieht es z.B. bei einer transkribierten E-Mail aus, die digital entsteht und ausgedruckt oder vorgelesen werden kann. Sie kann aber nicht in einen gegenständlichen Aggregatzustand transformiert werden, dies wäre zugleich ein Wandel der Form bzw. Gattung, da das wesentliche Merkmal originär digitaler Zeugnisse ihre Nicht-Gegenständlichkeit ist.

Während Historiker, wenn die Fragestellung es erfordert, die Originalquellen sichten, ist das für das historische Lernen in der Schule nicht üblich, sondern der Archivbesuch – wie oben bereits angedeutet – eine Ausnahme. Quellen kommen in der Regel nicht im Original im Geschichtsunterricht vor, sondern immer medial transformiert. Entscheidend scheint mir nun, dass diese Medialität der Quellen im Unterricht ganz wesentlich das Lernen und dessen Möglichkeiten determiniert, ohne dass das bisher immer im ausreichenden Maß reflektiert wird. Die Frage wird durch die Digitalisierung verstärkt, weil nun neue Zugangsmöglichkeiten gegeben sind, die die bisher durch Buchdruck und Schulorganisation vorgebenenen Rahmenbedingungen eines im Wesentlichen buch- und textbasierten Unterrichts in Frage stellen – ohne dass ein eindeutige Antwort auf mögliche oder notwendige Veränderungen von vornherein gegeben ist..

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