Digital literacy im Geschichtsunterricht? – Teil 2: historical literacy

Der folgende Text ist der zweite Teil einer überarbeiteten Fassung des Vortrags vom 4. Juli 2017. Die Folien der Präsentation finden sich hier.

Wenig verwundern dürfte nach dem bereits Gesagten, dass es im englischsprachigen Raum auch eine „historical literacy“ gibt. Historical Literacy bezeichnet fachspezifische Methoden und Zugangsweisen des Geschichtsunterrichts, die einen Beitrag zur Orientierung des Individuums in der Welt bieten.

Der kanadische Geschichtsdidaktiker Stéphane Lévesque hat es in einem Beitragstitel1 auf den Punkt gebracht:

„Learning to THINK like Historians“

Es geht nicht darum, in der Schule Historiker auszubilden, sondern aus dem Fach heraus historisches Denken als eine Art historischer Grundbildung und damit Teil der Allgemeinbildung zu erwerben und einzuüben.

Was damit gemeint ist, lässt sich am besten an einem konkreten Beispiel aufzeigen: Das kanadische Historical Thinking-Projekt basiert auf der Idee einer „historischen Grundbildung“ (nicht „Kompetenz“, auch wenn es Überschneidungen mit den deutschsprachigen Kompetenzmodellen gibt, siehe z.B. Trautwein et al. 2017, 40ff. – insbesondere ist hier das FUER-Modell zu nennen, das von einer grundsätzlichen Orientierungsfunktion historischen Denkens ausgeht).

In dem Projekt wurden sechs second-order Konzepte als wesentliche Grundlage von historischem Denken identifiziert:

  1. Establish historical significance
  2. Use primary source evidence

  3. Identify continuity and change

  4. Analyze cause and consequence

  5. Take historical perspectives, and

  6. Understand the ethical dimension of historical interpretations.

Auf der Webseite des Projekts wird auf die Alltagsbedeutung dieser Konzepte verwiesen:

Historically literate citizens can assess the legitimacy of claims that there was no Holocaust, that slavery wasn’t so bad for African-Americans, that aboriginal rights have a historical basis, and that the Russian experience in Afghanistan serves as a warning to the Canadian mission there. They have thoughtful ways to tackle these debates. They can interrogate historical sources. They know that a historical film can look „realistic“ without being accurate. They understand the value of a footnote.“2

Wenn man sich die Konzepte und genannten Beispiele anschaut, wird man schnell erkennen, dass im Geschichtsunterricht in den deutschsprachigen Ländern eventuell mit einem etwas anderen Schwerpunkt, aber im Kern genau diese Konzepte seit einigen Jahrzehnten erlernt und angewendet werden (den gap zwischen Theorie und Praxis mal einfacherweise außer Acht lassend).

Interessant finde ich aber einen anderen Punkt: Wenn man sich die wenigen Beispiele für die Anwendung dieser Konzepte anschaut und speziell den letzten Punkt in den Blick nimmt: die Bedeutung einer Fußnote?

Ist das Aufgabe des Geschichtsunterrichts?

Wenn man auf begrenztem Raum nur Platz für 6 Beispiele hat, welche wählt man aus? Vermutlich die aus Sicht der Autoren wichtigsten. Es ist also davon auszugehen, dass das zusätzliche Beispiel am Ende mit Bedacht gewählt ist. Es stellt sich allerdings die Frage, ob auch dieser eigentlich nicht spezifisch historische Bereich Teil des Kerns von schulischen Geschichtsunterricht sein kann.

Das mag mit Blick auf den Titel vielleicht etwas abwegig erscheinen, aber berührt meines Erachtens eine zentrale Frage, wenn es um „Digitales“ in der  Fachdisziplin wie auch im Fachunterricht geht.

In einer Reihe von Workshops des Europarat werden gerade Guidelines für den Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert erarbeitet (zum Projekt siehe hier). Auf dem Workshop in Utrecht vor zwei Wochen tauchten in der Arbeitsgruppe, in der es um Internet, Social Media usw. ging, folgende Fragen auf: Kann das / darf das / muss das Thema des Geschichtsunterrichts sein? Was ist wirklich fachspezifisch, was nicht? Welche Voraussetzungen müssen Schülerinnen und Schüler mitbringen, um digital fachspezifisch zu arbeiten? Und wo sollen sie diese Voraussetzungen erwerben? Haben wir Zeit für – und da sind wir beim Titel des Vortrags – allgemeine „digital literacy“ im Geschichtsunterricht? Und falls ja: wieviel Zeit haben wir dafür bei durchschnittlich 2 Schulstunden Geschichtsunterricht pro Woche?

Um diese Fragen zu beantworten, ist es vielleicht ganz hilfreich einen Blick auf die gegenwärtige Praxis des Geschichtsunterrichts zu werfen. Drei kurze Beispiele – die erstmal nichts mit Digitalem zu tun haben –  sollen helfen die Verbindung von überfachlichen und fachspezifischen Kenntnissen und Fähigkeiten aufzuzeigen:

  1. Texte lesen: Trotz zunehmender Bedeutung von Bildern und Karten ist der Geschichtsunterricht immer noch weitgehend textbasiert. Schriftliche Quellen und Darstellungen machen den Kern des Unterrichts aus. Und ganz banal: Dafür muss man lesen können. Wer nicht oder nicht gut lesen kann, wird Probleme im Geschichtsunterricht haben. Das ist die allgemeine Seite – man könnte daneben auch den Erwerb und das Einüben von Lesetechniken wie Scanning und Skimming, Markieren und Unterstreichen usw. nennen. Neben der allgemeinen Lesekompetenz gibt es aber auch ein fachspezifisches Vokabular sowohl zeitlich historisch bei der Quellenlektüre wie auch fachlich in Darstellungen, ohne dessen Kenntnis sich auch bei sonst guter Lesekompetenz ein Text im Geschichtsunterricht nicht erschließt.
  2. Quellenkritik: Als zentrale Arbeitsmethode der Fachwissenschaft wie des Unterrichts ist es nicht notwendig, Quellenkritik vorzustellen. Sie ist seit Jahrzehnten in Deutschland selbstverständlicher, zentraler Bestandteil von Geschichtslernen in der Schule (wenn auch in der Regel in reduzierter Form: gekürzte, vereinfachte Quellen im Schulbuch oder auf Kopie, denen die wesentlichen Informationen bereits beigegeben sind). Zugleich lässt sich diese Methode grundsätzlich aber auch auf alle medialen Repräsentationen übertragen und anwenden: Wenn man sich die gängigen Vorschläge zur Überprüfung der Zuverlässigkeit einer Internetseite anschaut, dann ist das im Kern die historische Quellenkritik angewendet auf einen anderen Gegenstand.
  3. Textgattungen: Sowohl bei der Analyse von Texten wie bei der eigenen Produktion muss man wissen, welche Textsorten es gibt, wie sich diese unterscheiden und für welche Zweck welche Textgattung besser geeignet ist als eine andere. Das ist etwas, was zunächst einmal nicht im Geschichtsunterricht vermittelt, aber notwendigerweise im Fachunterricht immer abgerufen wird. Zugleich muss man aber auch spezifische (historische) Textsorten erkennen und unterscheiden können. Das betrifft sowohl historische Quellen wie Geschichtsdarstellungen.

Die Beispiele zeigen, dass auch zunächst noch ohne alles „Digitale“ im Geschichtsunterricht allgemeine und fachspezifische Kenntnisse und Fähigkeiten immer interdependent sind. Das Nachdenken über die Rolle digitaler Medien führt nur dazu, über Medien im Fachunterricht grundsätzlich nachzudenken und deren Bedeutung und Relation aus heutiger Perspektive zu bestimmen.

1 http://www.virtualhistorian.ca/system/files/Levesque On Historical Literacy Winter 2010_0.pdf

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