Flucht und Migration als Thema im Geschichtsunterricht

„Schulbücher stellen Zuwanderung zu negativ dar“, so lautete im März 2015, also vor nmigration-is-not-a-crime-800pxicht einmal einem halben Jahr, die Schlagzeile in der ZEIT zu einem Artikel über eine Studie der Integrationsbeauftragten (deren Ergebnisse vollständig als PDF auf den Seiten der Bundesregierung). Weiter heißt es im Artikel die Studie zusammenfassend:

„Ausländer und Flüchtlinge werden in deutschen Schulbüchern immer noch negativ dargestellt. Zuwanderung werde im Sozialkunde- und Geschichtsunterricht, teilweise auch im Fach Geografie immer noch vor allem als „konfliktträchtig und krisenhaft“ beschrieben […] Danach erscheinen Migration und Verschiedenheit in den Büchern in erster Linie als Problem und Herausforderung für eine weitgehend homogen vorgestellte Gesellschaft. Integration werde zwar als notwendig dargestellt, aber nicht weiter konkretisiert und unterschieden.“

Beretis 2012 in der Zeitschrift des Geschichtslehrerverbandes geschichte für heute (2/2012) ein (etwas kurz geratenen) Themenschwerpunkt „Migration“ erschienen, in dem Peter Lautzas durchaus leidenschaftlich auf wahrgenommene Probleme hinweist und für die Aneignung einer positiven Grundhaltung zur Einwanderung wirbt. Lesenswert sind die didaktischen Überlegungen von Bodo von Borries in Historischen Denken Lernen (2008, S. 138-147) ebenso wie der von Bettina Alavi und Gerhard Henke-Bockschatz bereits 2004 herausgebene Tagungsband „Migration und Fremdverstehen“ (Rezension, Inhaltsverzeichnis und Leseprobe als PDF), in dem Wolfgang Hasberg abschließend festhält, dass „Fremdverstehen, Migration und interkulturelle Erziehung in der Geschichtsdidaktik zwar immer wieder diskutiert würden, dass bislang jedoch noch keine ‚konsequente Zusammenschau dieser drei Teilaspekte geleistet‘ worden sei (S. 233).

Aufgegriffen werden können das Thema Migration in allen Epochen und ist damit im chronologischen Durchgang in allen Jahrgangsstufen lehrplankonform integrierbar. In moderner angelegten Curricula, die mit Längsschnitten und Modulen arbeiten, ist in der Regel das Thema „Migration“ mindestens einmal explizit Gegenstand des Unterrichts. Gute Anknüpfungsmöglichkeiten an Standardlehrplanthemen bieten folgende historische Migrationsbewegungen und Begegungsorte, so u.a.:

  • griechische Kolonien,
  • römischer Limes und Völkerwanderungen („invasions barbares“)
  • Ostsiedlung im Mittelalter,
  • Vertreibung der Juden und deren Aufnahme in Polen und im Osmanischen Reich (Mittelalter/16. Jahrhundert),
  • Hugenotten (17. Jahrhundert),
  • europäische Auswanderung in die USA (18./19. Jahrhundert),
  • Adelsemigration während der Französischen Revolution (Koblenz),
  • Ruhrgebiet in der Industrialisierung (besonders die Arbeitsmigration aus den verschiedenen preußischen Territorien),
  • Exil in der NS-Zeit,
  • „Umsiedlung“ nach dem 1. Weltkrieg (z.B. Türkei/Griechenland oder Oberschlesien)
  • Flucht und Vertreibung während und nach dem 2. Weltkrieg (besonders Polen/Ukraine/Deutschland),
  • Anwerbeabkommen und „Gastarbeiter“ in den 1950er, 60er und 70er Jahren
  • sowie Flucht aus der DDR.

An den jeweiligen historischen Migrationsbewegungen lassen sich Ursachen, Auslöser, Mittel und Wege analysieren und miteinander oder mit heutigen Beispielen vergleichen. Begegnung und (gegenseitige) Fremdheitserfahrung, Ankunft und Aufnahme sowie die Spannung zwischen den Polen Abgrenzung und Assimilation können gleichfalls an zahlreichen Quellen untersucht werden. Wichtig erscheint mir, dass im Geschichtsunterricht deutlich wird, dass vermeintlich homogene, historisch unveränderte Gesellschaften eine Fiktion, Migration weder ein modernes Phänomen und noch eine Ausnahme, sondern der Normalfall ist.

Dazu passt der Ansatz, den Europäische Geschichte Online (EGO) verfolgt, der aber bislang nur kaum Anwendung auf Ebene des Geschichtsunterrichts gefunden hat. Unter dem Titel „Europa unterwegs“ sind dort einige interessante Beiträge zu Reisen und Migrationsbewegungen in der europäischen Geschichte zusammengestellt.

Die Besonderheit des Projekts ist der Forschungsansatz, „Prozesse interkulturellen Austauschs in der europäischen Geschichte […], die über staatliche, nationale und kulturelle Grenzen hinauswirkten“ (http://ieg-ego.eu/de/ego) in den Blick zu nehmen und „Europa als einen stets in Wandlung befindlichen Kommunikationsraum, in dem vielgestaltige Prozesse der Interaktion, Zirkulation, Überschneidung und Verflechtung, des Austauschs und Transfers, aber auch von Konfrontation, Abwehr und Abgrenzung stattfanden“ (ebd.) zu beschreiben.

http://ieg-ego.eu/de/threads/europa-unterwegs

In einem der ersten Blogbeiträge vor über sechs Jahren hatte ich bereits auf verschiedene Internetportale hingewiesen, die Informationen und Materialien zu historischen Aspekten von Migration bieten. Die Links habe ich geprüft und sofern notwendig aktualisiert.

Hier folgen nun noch einmal Links zu Materialien für den Unterricht. Weitere Hinweise auf online verfügbare Quellensammlungen und Unterrichtsideen bitte gerne über die Kommentarfunktion hinzufügen!

Auf den Seiten der Geschichtsdidaktik der Universität Erlangen findet sich eine Handreichung für Lehrkräfte mit dem Titel „Migrationsgeschichte. Sammeln, sortieren und zeigen“, die von Gesa Büchert und Hannes Burkhart herausgegeben und großteils auch verfasst wurde. Sie kann als PDF heruntergeladen werden:

http://www.geschichtsdidaktik.ewf.uni-erlangen.de/migrationsgeschichte.pdf

Gleichfalls eine „Handreichung für Unterricht und Bildungsarbeit“ bietet das Netzwerk Migration in Europa an. Der Schwerpunkt liegt auf der Gegenwart, es gibt aber auch Module zur Emigration der 1930er und 40 er Jahre sowie zur Genfer Flüchtlingskonvention von 1951:

http://www.migrationeducation.org/fileadmin/uploads/Broschuere_Deutsch_2.Auflage_01.pdf

Hilfreich vor einer unterrichtlichen Beschäftigung mit dem Thema „Migration“ ist auf jeden Fall die Lektüre der Überlegungen zur „Kulturalisierungsfalle“, die sich begleitend zur (Online-) Ausstellung „Deutsch-Osmanische Verflechtungen und Armeniergräuel im Ersten Weltkrieg“ finden. Dort sind auch aktuelle weiterführende Literaturangaben speziell zu Geschichtsdidaktik und -unterricht:

https://www.blogs.uni-mainz.de/fb07-armeniergreuel/didaktische-ueberlegungen/kulturalisierungsfalle-2/

Zunächst ist das aktuelle Projekt gefluechtet.de zu „Ursachen, Lebenssituation und Umgang mit Flucht“ zu nennen. Das kollaborativ verfasste Blog dokumentiert Biografiegeschichten von Flüchtlingen in Vergangenheit und Gegenwart und ist offen zur Mitarbeit.

Eine umfangreiche Sammlung zu Projekt- und Unterrichtsideen sowie Materialien zu „Exil, Fremdsein und Migration“ bietet weiterhin der Exil-Club, dessen letztes Update allerdings bereits Mitte 2007 erfolgte, so dass mit Sicherheit einige der Links nicht mehr funktionieren werden:

http://www.exil-club.de/dyn/411.asp?Aid=248&Avalidate=96477687&&cache=4053

Die Bundeszentrale für politische Bildung hat aktuell ein Dossier mit verschiedenen Beiträge zum Thema „Flucht und Asyl“ zusammengestellt: http://www.bpb.de/lernen/themen-im-unterricht/212843/flucht-und-asyl

Ebenso bieten Die Zeit wie auch die FAZ speziell für Schulen Texte und Materialien allgemein zum Thema „Migration“ an:

http://www.zeit.de/gesellschaft/schule/2015-03/zuwanderung-schulunterricht-lehrmaterial

http://www.fazschule.net/project/die-welt-in-bewegung2011

Didaktische Überlegungen insbesondere zur Landesgeschichte: Ulrich Maier, Migration als Thema der Landesgeschichte, in: Landesgeschichte in Forschung und Unterricht 1, herausgegeben vom Württembergischen Geschichts- und Altertumsverein, Kohlhammer, Stuttgart 2005, S. 9-23. http://www.schule-bw.de/unterricht/faecheruebergreifende_themen/landeskunde/modelle/epochen/neuzeit/migration/migration-als-thema.pdf

Unterrichtsideen, didaktische Überlegungen und Materialien in: Deutschland & Europa 45 (2004): Migration http://www.deutschlandundeuropa.de/45_02/Migration.pdf

Zu den Hugenotten am Beispiel der Familie De Maizière schreibt Charlotte Jahnz auf gefluechtet.de: http://gefluechtet.de/wp/2015/09/25/vom-religionsfluechtling-zur-funktionselite/

Eher touristisch angelegt, aber geradea deshalb mit geschichtskultureller Perspektive auch für den Unterricht nutzbar ist der sogenannte „Hugenotten und Waldenser-Pfad“: http://www.hugenotten-waldenserpfad.eu/

Eine Unterrichtseinheit vom Deutschen Polen-Institut im Rahmen seiner Veröffentlichungen „Polen in der Schule“ beschäftigt sich mit der Ostsiedlung im Mittelalter: http://www.poleninderschule.de/assets/polen-in-der-schule/downloads/arbeitsblaetter/Gesamtdatei-Ostsiedlung.pdf

Dort auch zur polnischen Emigration im 19. und 20. Jahrhundert: http://www.poleninderschule.de/assets/polen-in-der-schule/downloads/arbeitsblaetter/p-migration-01-didaktikliteratur01.pdf

Siehe dazu auch: Hellmuth Vensky, Polen prägten das Ruhrgebiet. Schimanskis Väter, in: Die Zeit Online, 2. März 2010, http://www.zeit.de/wissen/geschichte/2010-02/ruhr-polen/komplettansicht

Zur Auswanderung nach Nordamerika sei auch noch auf einen älteren Beitrag hier im Blog verwiesen: https://geschichtsunterricht.wordpress.com/2011/03/09/auswanderung-und-assimilation/

Siehe dazu auch: Bernd Brunner, Deutsche Massenmigration: Der große Aufbruch, in: : http://www.zeit.de/zeit-geschichte/2011/03/Massenauswanderung/komplettansicht

Zur rheinland-pfälzischen Landesgeschichte auf die umfangreichen Seiten zum Thema „Auswanderung“. Neben den USA sind Brasilien, Osteuropa und das Exil während der NS-Zeit weitere Schwerpunkte: http://www.auswanderung-rlp.de/startseite.html

Koblenz als Zentrum der Emigration des französischen Adels 1791/1792:

Rhein-Zeitung: http://www.rhein-zeitung.de/region/lokales/koblenz/stadtgeschichte_artikel,-Teil-24-Koblenz-Zentrum-der-Royalisten-_arid,364571.html

regionalgeschichte.net: http://www.regionalgeschichte.net/bibliothek/texte/aufsaetze/thielen-katharina-emigrationszentrum-koblenz.html

Landeshauptarchiv: http://www.lha-rlp.de/index.php?id=367

9 Gedanken zu „Flucht und Migration als Thema im Geschichtsunterricht

  1. Vielen Dank für diese Sammlung! Im bayerischen Lehrplan ist das Thema in der 10. nämlich als Vertiefung (in Zusammenarbeit mit Sozialkunde) verankert und ich hatte mir überlegt, je nach Zeitplanung, das als kleines Projekt mit den Schülern zu machen. Insbesondere, da ich momentan in Hof unterrichte und dort das Thema eigentlich immer aktuell war.

    Gefällt 1 Person

  2. Vielen Dank für diese nützliche Sammlung!
    ich würde gerne noch unseren/meinen Beitrag zum Thema von 2011 ergänzen, der kürzlich aus dem aktuellen Anlass wieder neu aufgelegt wurde: Zusammen mit meinem Kollegen Max v. Redecker hatte ich ein Unterrichtsmodell entwickelt, erprobt und ausgewertet, das mit einem Weblog als Materiallager sowie als Plattform für Schülerarbeiten und Diskussionen ein zugleich hoch personalisiertes wie kollaboratives Lernen zum Gegenstand Migration-Integration darstellt. Im Netz gibt es die daraus entstandene Lehrerhandreichung, sowie zwei Blogs: Einmal das Original-Blog, mit dem die Schüler gearbeitet hatten, und zum anderen das Blog nur mit der Materialsammlung und ohne die Schülerarbeiten, das von jeder Lerngruppe als Material“steinbruch“ – aber natürlich auch zur Kommunikation! – genutzt werden kann.
    Hier die Beschreibung und Auswertung des Projekts: http://li.hamburg.de/contentblob/3377730/data/download-integration.pdf
    Hier das Originalblog: https://migrationintegration.wordpress.com/
    Hier das Blog CC für Schüler und Lehrer: https://projektmigrationintegration.wordpress.com/

    Gefällt 1 Person

  3. Das ist eine super Liste, vielen Dank! Ich habe zum ersten Mal einen LK in Geschichte, demnächst wartet das Thema Völkerwanderung auf mich und ich wusste die ganze Zeit nicht wie ich einen Längsschnitt/ einen roten Faden zum Thema Migration hinbekommen soll.
    Ich gebe es an meine genauso frischen Kollegen weiter 🙂

    Gefällt 1 Person

    • Freut mich, wenn die Übersicht hilfreich ist. Der Beitrag geht auf die Anfrage einer Geschichtsfachschaft zurück, die ich per Mail beantwortet habe. Ich dachte aber dann, so eine Zusammenstellung könnte vielleicht auch ein, zwei andere Kolleginnen und Kollegen im Moment interessieren 🙂

      Like

  4. Ein sehr guter Beitrag zum Thema!
    Der Hugenotten- und Waldenserpfad e.V. setzt sich als deutscher Trägerverein der Europäischen Kulturroute „Hugenotten- und Waldenserpfad“ dafür ein, das Bewusstsein für das historische Kulturerbe der Hugenotten und Waldenser zu bewahren und dies auf dem „Weg in die Freiheit“ in Verbindung zu bringen mit der Aktualität der Themen Exil, Migration und Integration in Europa.
    Gerne kooperieren wir auch mit Schulen. Eine Wanderung auf den Spuren der Hugenotten- und Waldenser und/oder eine anschließende Vertriefung des Themas bei einer Führung in einem Museum o.ä. können eine Unterrichtseinheit ergänzen. Gerne sind wir bei der Organisiation eines solchen Ausflugs behilflich.
    Derzeit arbeiten wir auch an einem speziellen zielgruppenspezifischen Kulturvermittungskonzept zum Thema.
    Die Vermittlung des Kulturerbes und des historischen Hintergrunds an Kinder und Jugendliche liegt uns ganz besonders am Herzen, daher freuen wir uns auf Ihre Anfrage!
    Kontakt : info@hugenotten-waldenserpfad.eu
    Weitere Informationen: http://www.hugenotten-waldenserpfad.eu oder auf facebook unter: Der Weg in die Freiheit: Hugenotten- und Waldenserpfad e.V.

    Gefällt 2 Personen

  5. Migration und Flucht grundsätzlich nur als Problem zu begreifen, ist natürlich historisch unangemessen; es als historischen Normalfall anzusprechen, ist definitiv ein richtiger Weg (ebenso wie z.B. die Thematisierung der Mehrsprachigkeit als historischer Normalfall m.E. Potential birgt). Mir scheint zusätzlich, dass Prozesse von Flucht und Migration mit dem Ankommen in einer Aufnahmegesellschaft auch eine produktive Sonde für die Selbstverortung und Selbstvergewisserung der Aufnahmegesellschaft sind – und dass die langwierigen und mitunter spannungsfreieren, mitunter spannungshaltigeren Phasen des wechselseitigen Umgangs miteinander Lernende auch darauf verweisen können, dass politische Prozesse in der Regel längerwierige Lernprozesse darstellen und „Probleme“ niemals mit einfachen Entscheidungen zu lösen sind. All das sind jedenfalls Punkte, die mir bei der gegenwärtigen „Flüchtlingskrise“ durch den Kopf gehen.

    Gefällt 1 Person

  6. Pingback: Flucht, Migration und Geisteswissenschaften. Resümee zur Blogparade #refhum | Krosworldia

  7. Pingback: Flüchtling, Migrant, oder was? Vorschlag für eine Auftaktstunde zur Orientierung | Medien im Geschichtsunterricht

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.