Auf die Formel von Verknappung versus Überfluss könnte man einen grundlegenden Unterschied zwischen analogem und digitalem Geschichtslernen bringen. Die bisherige Methodik des Geschichtsunterrichts basierte notwendigerweise auf verknappten Ressourcen. Grundlage des Geschichtsunterrichts ist in der Regel weiterhin weitgehend das Schulbuch, das aus einer mehr oder weniger umfangreichen Darstellung in Form eines Verfassertextes sowie einige Quellenauszügen besteht. In den letzten Jahrzehnten wurden diese durch Fotokopien ergänzt und erweitert.
Den in Schulbüchern abgedruckten Quellen ebenso denen durch die Lehrkraft auf Kopien ausgeteilten wird durch die erfolgte Vorauswahl und den Abdruck bereits eine hohe Relevanz zugeschrieben. Das ist ein Grund dafür, dass sie oft nur noch der Informationsentnahme, der Bestätigung des Lehrervortrags oder Verfassertextes dienen, aber nicht der historischen Auseinandersetzung. Eigentliche Quellenarbeit müsste früher einsetzen und sich nicht auf die Bearbeitung stark zusammengekürzte Textschnipsel reduzieren. So schreibt auch Körber:
„Im Unterricht wird jedoch zumeist einfach von einem gegebenen Quellenwert ausgegangen. Bereits die einfache Übung, den Schülerinnen und Schüler[n] ebenso Materialien zur Bearbeitung einer Fragestellung vorzulegen, die sich (erst) nach Prüfung als (für diesen Zusammenhang) belanglos erweisen, findet kaum statt – um so weniger noch die differenzierte Erörterung des Quellenwerts der, z.B. in Schulbüchern als relevant bezeichneten Materialien: Was im Buch oder auf dem Arbeitsblatt steht, muss bedeutsam sein, denn es hätte sonst nicht seinen Weg dorthin gefunden. Damit ist aber den Schülern geradzu die Denkleistung abgenommen, die zu der Erkenntnis führen kann, dass der Quellenwert dem Material nichts inhärentes, sondern ein ihm im Zuge des fragenbasierten historischen Denkens zugewiesenes ist.“ (Neuried 2007, 559)
Gegen eine wissens- oder archivnahe Beschäftigung mit Quellen im Klassenraum sprach neben der mangelnden Verfügbarkeit, im Wesentlichen ein Platzproblem des Schulbuchs, auch die Frage der „Effektivität“ des „durchgenommenen Stoffs“ in Bezug zur Unterrichtszeit sowie insbesondere für ältere Quellen deren Lesbarkeit. Ein Paläographiekurs ist Schülerinnen und Schülern sicher nicht zuzumuten. Mit der wachsenden Bedeutung der Zeitgeschichte in der Schule wird dieses Argument allerdings weniger wichtig.
Während der Archivsbesuch im Rahmen einer Exkursion oder eines Projekts die Ausnahme vom Regelunterricht bleibt, bietet die Digitalisierung die Möglichkeit die Archivsituation in die Schule zu holen. Zahlreiche Projekte und Institutionen haben dazu beigetragen, dass sich umfangreiche Themenangebote, Ausstellungen, vor allem aber zunehmend digitalisierte Quellensammlungen im Internet finden.
Eine im Hinblick auf den Überfluss von verfügbaren digitalisierten Quellen und Darstellungen veränderte Unterrichtsgestaltung kann sich aber erst entwickeln, wenn die Lehrkräfte die zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht mehr nur für die Unterrichtsvorbereitung nutzen und diese damit bereits filtern und auswählen, sondern ihre direkte und ubiquitäre Verfügbarkeit für historisches Lernen in der Schule nicht nur zuzulassen und sie dazu zu nutzen, grundlegende Kompetenzen für den Umgang mit Geschichte außerhalb der Schule zu fördern.
Um die Fülle digitalisierter Quellen im Netz sinnvoll erschließen und verwenden zu können, müssen Schülerinnen und Schüler lernen, über adäquate Recherchestrategien in Suchmaschinen und Datenbanken zu verfügen, Dokumente anhand von Metadaten schnell zu identifizieren und ihre Relevanz im Hinblick auf die Fragestellung in einem ersten Schritt zu prüfen, ohne die komplette Quelle en détail zu lesen. Schließlich müssen sie in die Lage versetzt werden, die gefundenen Quellen gezielt und methodisch angemessen, ggf. mit Hilfe digitaler Werkzeuge, auszuwerten. Hier sind also Kompetenzen gefragt, die über den Geschichtsunterricht hinaus relevant sind, aber innerhalb des aktuellen schulischen Fächerkanons besonders in „Geschi“ angebahnt und eingeübt werden können.
Um dies zu leisten, ist in mehrfacher Hinsicht eine veränderte Gestaltung des Geschichtsunterrichts notwendig. Dies betrifft u.a. das Aufbrechen der Planung von Einheiten im 45 Minuten-Rhythmus, die durch längere Phasen projektorientierten Arbeitens ersetzt werden, eine Offenheit der Lernprozesse, deren Ergebnis anders als bei im Referendariat eingeübten Stundenmodellen nicht vorn vornherein feststeht und damit einhergehend das Zulassen eigener Fragen der Lernenden, deren mögliche Beantwortung an verfügbaren Materialien geprüft werden (Es kann dann auch eine wichtige Erkenntnis sein, dass sich gewisse historische Fragen aufgrund der Quellenlage nicht oder nicht eindeutig klären lassen).
Genauso. Und wir haben ja auch schon Beispiele dafür, dass man so im digit. Zeitalter in der Schule gut gesellschaftswissenschaftliche Gegenstände lernen kann. Dabei muss man die Schüler ja nicht nur selbst suchen lassen, sondern kann ihnen ein riesiges (vorausgewähltes) digitales Materialangebot machen, aus dem sie auswählen können und gleichzeitig auch noch dazugeben aus ihren eigenen Suchergebnissen. Das haben Max v.R. und ich 2010/11 ausprobiert mit dem zeitgeschichtlich-politischen Thema Migration-Integration
http://projektmigrationintegration.wordpress.com/
Wir wollen das Materialblog regelmäßig aktualisieren, sodass es für alle zum Gebrauch zur Verfügung steht.
Der Unterricht damit ist prima gelaufen und hat viele Kinder gekriegt. U.a. sitzen wir an der Vorbereitung eines ebensolchen Projekts zum Thema „Postwachstumsgesellschaft“, fokussiert auf Ökonomie. (Das liegt daran, dass Max grad Wirtschaft in seinem Kurs machen muss.) Erprobung im Unterricht: Frühjahr 2014; Broschüre und öffentliches Blog kommen dann Ende 2014 raus.
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Genau meine Meinung. Im Zuge jeder OER-Bewegung plädiere ich dafür, Lehr- und Lernmittel allmählich durch die in der realen (digitalen) Außenwelt vorkommenden Informationen zu ersetzen. Der Schüler, der lernt, sich seine für ein bestimmtes Thema relevanten Informationen selbst zu suchen, um dann z.B. kompetente Aussagen zu historischen Prozessen machen zu können, wäre im besten Sinne gebildet und zukunftsfähig (sowohl was ein späteres Studium als auch was ‚Alltagstauglichkeit‘ angeht).
Ich führe in meinem Ge-Unterricht zurzeit ein Projekt gestützt auf Schüler-Blogs durch. Die Schüler werden an die Informaionsflut langsam herangeführt, indem Sie Ankerpunkte im Netz genannt bekommen, an die sie ihre Recherchen anknüpfen können (z.B. LeMo – welches sowohl an Sekundärtexten wie auch an Quellen viel zu bieten hat). Dadurch erreiche ich auch eine selbstdifferenzierende Arbeit, da die Schüler auch mit den vorgeschlagenen Ressourcen zurecht kommen können. Viele Schüler kommen aber von ganz allein auf die Idee ‚auf eigene Faust‘ zu recherchieren. Wenn Sie dann ihre Quellen am Ende ihrer Artikel nennen, kann ich sie mir ansehen und ggf. als Positiv- oder Negativbeispiel im Unterricht thematisieren. Es ist mühsam für die Schüler, sich von den vorgekauten Häppchen der Schulbücher zu verabschieden. Sie machen es aber gerne, weil sie die Chance haben, sich von starren Unterrichtsstrukturen zu lösen und als ‚Belohnung‘ eigene Scherpunkte setzen können. So kommen in meinen Schülerblogs auf einmal neben den geforderten Pflichtartikeln auch Beiträge zustande, die mit „Exkurs: …“ beginnen. Ich wusse gar nicht, dass meine 10-Klässler wissen, was ein Exkurs ist 😉
Meine ersten Erfahrungen mit dieser digitalen Lernumgebung habe ich niedergschrieben:
http://wp.me/p3hNW3-Lz
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Vielen Dank für eure Kommentar. Genau so war der EInwurf natürlich gemeint. Nicht: Liebe Schüler, hier ist Google, schaut mal, was ihr finden könnt, sondern schon verknüpft mit der Möglichkeit der Vorauswahl, aber eben nicht einzelner Quellenschnipsel, sondern ganzer Bestände, an die die Lernende ihre Forschungsfrage herantragen und sie damit untersuchen können (beispielhaft umgesetzt z.B. in der Chronik des Gettos Litzmannstadt http://getto-chronik.de/).
Den Erfahrungsbericht zum Blogeinsatz finde ich übrigens sehr spannend und anregend. Was ich mich dabei noch gefragt habe, da die Beiträge sowie das Vernetzen und Kommentieren der Lernenden in die Leistungsbewertung mit einbezogen werden soll, inwiefern sind den Schülern Kriterien dafür (Aufbau und Gestaltung von Beiträgen etc.) bewusst und transparent, was macht hier die Qualität aus, es kann ja nicht nur über Quantität gehen…?
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Hallo und danke für die Rückmeldung! Ich habe im Moment das Glück, dass ich mit einer 10. Klasse meine ersten Erfahrungen mit dem Blog-gestützten Unterricht machen darf. Ich kann also (theoretisch) davon ausgehen, dass fast sämtliche Methoden/Kompetenzen bereits vermittelt worden sind. Ich werde also bis zu den Sommerferien im Grunde den Schwerpunkt auf die Anwendung (und damit Wiederholung) dieser Komptenzen setzen und am laufenden Band Texte produzieren lassen. Meine Erfahrungen aus dem Oberstufenunterricht zeigen leider viel zu häufig, dass die Schüler bis zur 10. Klasse nicht gelernt haben, Texte zu schreiben, in denen sie systematisch ein Thema erarbeiten und am Schluss auch noch eine wirklich aus der Textarbeit heraus begründete eigene Stellungnahme/Beurteilung oder Ähnliches schreiben können. Dies trainiere ich jetzt mit ihnen. Ihnen wird durch meine wöchentlichen ‚Leitfragen‘ das Grundgerüst und Thema vorgegeben und ihnen ist der erwartete Textaufbau/-umfang dadurch vorgegeben bzw. bekannt. Sobald ein Artikel auf einem der Schülerblogs erscheint, lese ich ihn kritisch und gebe ein qualitatives Feedback – vergleichbar also mit herkömmlichem Unterricht, in dem ich ebenfalls Rückmeldungen über die Qualität der Schülerbeiträge gebe. Der entscheidende Unterschied ist jedoch, dass die Schüler über die Blogs unter sehr viel weniger ‚Druck‘ mitarbeiten.
Der quantitative Ansatz zur Beurteilung der Mitarbeit ist zunächst nur eine erste Rückmeldung an die Schüler, die ihnen klar machen soll, ob sie sich überhaupt genug engagieren. Dabei bemerken sie, dass schon der simple Austausch auf Kommentarebene positive Wirkung auf die Mitarbeitsnote hat (analog zum Melden im Unterricht – mit dem Unterschied, dass sie immer auch etwas mitteilen, also ‚dran kommen‘). Sie werden dadurch aber auch zur Auseinandersetzung mit den Inhalten und damit auch meinem Feedback auf den Seiten der Mitschüler angehalten. Kurz: Die quantitative Beurteilung ist ein reines Blohnungssystem. Da ich mittlerweile keine Hausaufgaben mehr aufgebe, um ihnen dann hinterherzulaufen, leite ich die Schüler auf den Weg der eigenverantwortlichen Mitarbeit und honoriere es dann, wenn Sie mitarbeiten. In den nächsten Wochen werde ich mir systematisch Feedback von den Schülern zu dem Blog-Projekt geben lassen – Ich werde dann berichten, ob der Unterricht nur mir Freude macht 😉
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