Geschichtsunterricht 2.0 und Archive 2.0 – Teil 3

Dritter und letzter Teil des Vortragsmanuskripts zur Tagung Archive 2.0 in Bloghäppchenform mit Verlinkungen

5. Durch die vereinfachte Verfügbarkeit von Informationen und medialen Inhalten sowie die Digitalisierung der jugendlichen Lebenswelten kommen Schülerinnen und Schüler auch immer wieder mit unterschiedlichsten Deutungsangeboten zur Geschichte in Kontakt. Sei es nun in Spielfilmen, Dokumentationen, Werbung, in der Wikipedia oder politischen Argumentationen. Das ist alles nicht neu, erhält aber eine wachsende Bedeutung und nun auch zunehmend Aufmerksamkeit der Geschichtsdidaktik. Der Geschichtsunterricht wird diese Elemente aufnehmen und weniger versuchen, Schüler zu Historikern auszubilden, sondern sie kompetent im Umgang mit den verschiedenen Formen der Geschichts- und Erinnerungskultur zu machen. Dabei geht es um aktive und kritische Teilhabe. Insgesamt wird dies eine Aufwertung der Bedeutung von Zeugnissen der aktuellen Geschichtskultur mit sich bringen, die bisher eine völlig untergeordnete Rolle spielen und z.B. in den Schulgeschichtsbüchern kaum vorkommen.

6. Die veränderte Aufgabenkultur und das Erstellen eigener Geschichtsprodukte unterstützen eine weitere Entwicklung, die zunächst vielleicht etwas widersprüchlich erscheinen mag: die wachsende Bedeutung von Lokal-/Regionalgeschichte für historisches Lernen in der Schule. Hier kann anschaulich und exemplarisch gelernt werden, ohne dass die Ergebnisse bereits fertig abrufbar im Netz stehen. Schüler auch können selbst Arbeiten und Beiträge leisten für die Geschichtskultur vor Ort.

Gesellschaftlich und politisch, letzteres bestimmt ja weiterhin die Vorgaben für die Curricula, geht die Entwicklung in eine stärkere Ausrichtung auf Europa und die Welt im Sinne einer verflochtenen Globalgeschichte als Bezugsrahmen. Das heißt, es kommt zu einem Rückgang der Dominanz einer nationalen Meistererzählung als Orientierung und Leitfaden des Unterrichts, der die viele Lehrpläne in Deutschland wie auch anderen europäischen Ländern weiterhin bestimmt.

Die beiden Entwicklungen scheinen zunächst widersprüchlich, sind es aber nicht. Sie sind vielmehr komplementär, sowohl im Sinne einer integrativen Geschichte vor dem Hintergrund zunehmender Migration als auch bei einer Didaktisierung der Globalgeschichte, in der es nicht um zusätzliche Inhalte, sondern um das Aufzeigen von Verflochtenheit geht. Um das nicht zu abstrakt, sondern altersgerecht zu machen, bietet sich die eigene Region als Ausgangspunkt an, nicht um die Besonderheiten und Leistungen, sondern um in einem transkulturellen Ansatz das Typische und die Verknüpfungen herauszuarbeiten:

in dem man [Zitat] „Prozesse interkulturellen Austauschs in der europäischen Geschichte in den Blick [nimmt], die über staatliche, nationale und kulturelle Grenzen hinauswirkten“ und „Europa als einen stets in Wandlung befindlichen Kommunikationsraum [zu beschreiben], in dem vielgestaltige Prozesse der Interaktion, Zirkulation, Überschneidung und Verflechtung, des Austauschs und Transfers, aber auch von Konfrontation, Abwehr und Abgrenzung stattfanden.“

Beispiele dafür liefern auf wissenschaftlicher Ebene das EGO-Portal (Europäische Geschichte Online) des Leibniz-Instituts aus Mainz, aus dessen Selbstdarstellung auch das obige Zitat stammt, sowie auf schulischer Ebene das Projekt Classroom4.eu [Seite existiert nicht mehr].

7. Dies alles bedingt eine Veränderung des Unterrichts mit einer Zunahme von offenen und projektartigen Formen mit einer Hinwendung zu mehr Verantwortung für die eigenen Lernprozesse durch die Lernenden. Die Ideen sind nicht neu, in ihren Ansätzen reichen sie oft über 100 Jahre zurück bis in die frühe Reformpädagogik. Wesentlich scheint aber, dass diese Formen heute zu der sich verändernden Lebens- und Arbeitswelt passen, an der sich Schule und Unterricht orientieren müssen. Zudem gibt es zwischen Formen offenen Lernens und Projektunterricht eine hohe Schnittmenge mit den Ideen und Möglichkeiten, die hinter den Begriffen von Web 2.o bzw. Social Media stehen. Die „Methode des Projektlernens und die Voraussetzungen des digitalen Zeitalters” (#pb21) passen gut zusammen. Lisa Rosa definiert als 4 wichtigsten Merkmale dieses Lernens: Lernen ist selbstbestimmt, personalisiert, kollaborativ und vernetzt.

Die Technik ist dabei aus schulischer Sicht der Didaktik nachgeordnet und hat einen unterstützenden Charakter, aber sie vereinfacht und ermöglicht diese Lernformen. Die Ausstattung der Schulen ist allerdings ein Hemmnis auf diesem Weg. Hier ist angesichts der knappen Kassen auch in der Breite keine Besserung in Sicht. Gleichzeitig ist aber zu beobachten, dass immer mehr Jugendliche eigene mobile Endgeräte (vor allem Smartphones, aber auch Tablets) besitzen, die sie in die Schule mitbringen und dort in der Regel aufgrund eines geltenden „Handy-Verbots“ nicht nutzen dürfen. Diese Geräte sind mittlerweile nicht selten schneller und leistungsstärker als die veralteten schulischen Computer. Für die Schulen stellt sich in den nächsten Jahren die Herausforderung auf didaktischer, organisatorischer und rechtlicher Ebene, diese mobile Endgeräte der Lernenden in den Unterricht und schulische IT-Infrastruktur zu integrieren.

8. Sollten die kurz skizzierten Entwicklungen zutreffen, so folgt in einer zugegebenermaßen sehr optimistischen Einschätzung eine insgesamt (wieder) höhere Bedeutung des Geschichtsunterrichts innerhalb des schulischen Fächerkanons. In den letzten Jahren ist es wiederholt zu Reduktionen der Stundenzahlen und Zusammenlegen mit anderen Fächern zugunsten anderer Fächergruppen gekommen. Die Aufwertung des Fachs liegt nicht in einem wie immer zu gestaltenden inhaltlichen Kanon, sondern im Erlernen von grundlegenden Kompetenzen für die Wissens-/Informationsgesellschaft, die das Fach bietet. Nur Geschichte, und das ist eines der Alleinstellungsmerkmale des Fachs, ist immer ausschließlich medial vermittelt. In einer digitalen, also vor allem medialen Welt darf sich das Fach Geschichte in der Schule auf die fachspezifischen Methoden und Inhalte konzentrieren und muss aber beginnen, deren gesellschaftliche Bedeutung zu kommunizieren.

Natürlich gibt es auch Faktoren, die den beschriebenen Entwicklungsmöglichkeiten entgegenwirken, So u.a.:

– Das Zentralabitur (nicht in Rheinland-Pfalz), das in der Oberstufe lokal-/regionalgeschichtliche Themen weitgehend verhindert, weil sie nicht abiturrelevant sein können, es sei denn die Region wird als Ebene des Bundeslandes verstanden.

– Die genannten Stundenkürzungen des Faches sowie das Zusammenlegen mit anderen Fächern und die Schulzeitverkürzung im Rahmen von G8. Lernen, und besonders komplexes historisches Lernen, braucht Zeit.

– Zu beobachten sind zudem seit einigen Jahren (europaweit) Tendenzen einer politischen Re-Nationalisierung, die einhergehen mit entsprechenden Forderungen an Geschichtsunterricht.

– Zur Zeit fehlt das Digitale noch weitgehend in der Lehreraus- und teilweise auch -weiterbildung. Jahrzehntelange Lehr- und Arbeitsroutinen unterstützen Abwehrhaltungen gegenüber digitalen Geräten in vielen Schulen, die oft noch fälschlich als reine Unterhaltungsmedien wahrgenommen werden, hohe Arbeitsbelastung, die nicht immer Zeit lässt, sich in Neues einzuarbeiten: Wandel benötigt Zeit und Arbeit.

zu 3) Wie könnten sinnvolle Angebote von Archiven 2.0 für den Geschichtsunterricht 2.0 aussehen?

Online-Angebote von Archiven, die über das Betreiben einer Internetseiten und das Bereitstellen von Informationen hinausgehen und im Sinne des Web 2.0 auf Öffnung, Austausch und Kommunikation ausgelegt sind, bieten Lehrkräften zunächst einmal vereinfachte Kontaktangebote. Die Chance, Lehrer so zu erreichen, ist relativ groß, da die meisten, wie beschrieben, zumindest privat soziale Medien nutzen und sich in der Regel auch über das Berufliche hinaus für Geschichte interessieren.

Allerdings findet man auch bei Facebook und Twitter vor allem das, was man sucht und bereits kennt. Zentrale Frage muss also sein, wie die Angebote der Archive bei Lehrkräften als einer Zielgruppe bekannt gemacht werden können. Abzuraten ist z.B. von Flyern und Wettbewerben – das ist nicht innovativ und Schulen werden davon regelrecht überflutet. Die meiste davon landet sofort im Mülleimer.

Wichtig ist die zeitaufwendige Pflege der Kommunikation, die eben nicht im Sinne einer „Faxmentalität“ beim Senden bzw. Veröffentlichen von Nachrichten stehen bleiben darf, sondern Gegenseitigkeit benötigt: Jeder Kanal ist ein Kommunikationsangebot. Wird darauf von Nutzern mit Fragen oder Bemerkungen eingegangen, verlangt das eine Antwort und Reaktion.

Das erwähne ich so ausführlich, weil gerade der Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) mit seiner Social Media-Nutzung ein Beispiel dafür bietet, wie man es nicht machen sollte. Facebook und Twitter werden nur zum Verlinken von Nachrichten auf der Homepage genutzt. Nachfragen und Anregungen bleiben unbeantwortet. Das zeigt, dass auf Verbandsebene, und das ist vermutlich auf einen Großteil der Lehrkräfte verallgemeinerbar, das grundlegende Prinzip „sozialer“ Medien nicht verstanden ist.

Der Gang ins Archiv mit Schülern ist trotz der fantastischen Möglichkeiten für historisches Lernen in vielen Fällen schwierig. Das hat schulorganisatorische und gesellschaftliche Gründe (Thema: Unterrichtsausfall) Natürlich geht jede Schule anders damit um. Aber für eine große Zahl sind Online-Angebote eine große Chance, wenn natürlich die Arbeit mit digitalisierten Archivalien den Gang ins Archiv nie voll ersetzt.

Für Geschichtslehrer auf jeden Fall gewinnbringend ist es, wenn Archive Teilbestände digitalisieren und online unter Creative Commons-Lizenzen bereitstellen, evtl. mit kurzen Handreichungen. Die rheinland-pfälzischen Landesarchive hatten begonnen, eine Reihe ausgewählter Archivalien als Unterrichtsmaterialien aufzubereiten und zur Verfügung zu stellen, das Projekt aber leider nach wenigen Monaten aus Mangel an Ressourcen abgebrochen.

Durch Web 2.0-Präsenzen von Archiven wird die Möglichkeit geboten und die Hemmschwelle gesenkt, hierzu Nachfragen zu stellen, und ergänzende Informationen einzuholen. Denkbar und sinnvoll erscheint umgekehrt aber auch gelungene Arbeiten von Schulen durch Verlinkung oder Präsentation auf den Archiv-Seiten aufzunehmen (recherchierte Informationen zu Fotos, digitale Themenkarten, Stadtrundgänge etc.) Die Weitergabe der Lernprodukte an das Archiv kann als Gegenleistung für das Bereitstellen der Materialien verstanden werden und bereichert dauerhaft das eigene archivpädagogische Online-Angebot. Schulische Produktionen sind so nicht mehr nur für Klassenraum, für Noten, Lehrer oder Schublade gedacht, sondern als längerfristig verfügbare Produkte für eine potentiell größere Öffentlichkeit.

Es ist allerdings nicht erwarten, dass gauf Online-Angebote von Archiven gleich viele Zugriffe von Schulen erfolgen. Die skizzierte Entwicklung braucht Zeit. Schulen als System, und Geschichtsunterricht als Teil dessen, sind schwerfällig und wandeln sich nur langsam.

Darüber hinaus lassen, wenn das auch mit höherem Aufwand verbunden ist, Projekte selbst initiieren. Allerdings werden Schulen, wie bereits gesagt, überhäuft mit Angeboten zu Schülerwettbewerben. Sich hier zu platzieren ist außerordentlich schwieirg. Um Schulen zu erreichen, auch im Zeitalter des Web 2.0, scheinen weiterhin persönliche Kontakte und Bindungen entscheidend. Dazu eignen sich Kooperationen mit regionalen Fachberatern oder Lehrerfortbildungsinstituten. Web 2.0 Angebote der eigenen Institution bieten im Anschluss die Chance lose Kontakt zu halten, der dann bei Bedarf einfacher reaktiviert werden kann.

Schließlich gibt es Möglichkeiten der Kooperation, die leider nicht immer gesehen werden. Als Beispiel sei hier der gerade erschienen „Stadtführer: Koblenz im Nationalsozialismus“ genannt, der ein Anknüpfen und Erweitern des kurz vorgestellten Google Maps-Projekts erlaubt hätte. Solche Projekte sind in vielfältiger Art und Weise möglich und können von Schulen und Archiven gemeinsam angegangen oder doch zumindest unterstützt werden z.B. regionale Stadt-Wiki-Projekte, virtuelle Ausstellungen, z.B. der 1. Weltkrieg in eigener Region/Stadt mit Beteiligung verschiedener Schulen/Klassen oder Geocaching-Projekte, die über das Digitalisieren bestehender Infostelen in der Stadt hinausgehen.

Natürlich sind solche Projekte aufwendig und sprengen oft den Rahmen der regulären Arbeit. Das gilt für beide Seiten.  Sowohl Archiv als auch Schule können in mehrfacher Hinsicht von solchen Kooperationen profitieren:

– als archivpädagogische Angebote sind die Ergebnisse längerfristig online, und verschwinden nicht in der Schublade, sondern können von anderen genutzt werden;

– Archive erschließen sich neue Nutzergruppen und zeigen sich als offene Einrichtungen des Kulturerbes;

– beiden Partner gelingt über die Kooperation das Herstellen einer größeren Öffentlichkeit für die Ergebnisse der eigenen Arbeit.

Einschränkend ist zu sagen: Es ist schön projekt- und produktorientiert zu arbeiten, aber wer liest bzw. nutzt die erstellten Produkte? Nur die Veröffentlichung auf einer Interetseite erzeugt noch kein Publikum. Von Beginn an ist daher bei der Planung und Durchführung Zielgruppe zu berücksichtigen. Das Herstellen einer Öffentlichkeit ist ebenso zentral wie schwierig, weil Aufmerksamkeit begrenzt und hart umkämpft ist. Kooperation und Vernetzung sind hilfreich, weil sie die Chancen für Schneeballeffekte bzw. virale Verbreitung erhöhen.

Schule 2.0 ist ebenso selten wie umstritten wie Archive 2.0. Die Argumente der Debatten ähneln sich dabei (u.a. keine Zeit, andere Aufgaben, rechtliche Fragen). Aber Schulen müssen sich ändern. Für Archive kann ich das nur vermuten und das wird sicherlich in den zwei Tagen hier noch intensiv diskutiert werden. Die skizzierten Ideen sind als Chance zu begreifen. Sie können zu einer wohl für Archive ebenso wie für Schulen aus meiner Sicht wünschenswerten Öffnung beider Institutionen wesentlich beitragen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

Werbung

Ein Gedanke zu „Geschichtsunterricht 2.0 und Archive 2.0 – Teil 3

  1. Pingback: Daniel Bernsen, Was erwarten Geschichtslehrer von Archiven 2.0? | Archive 2.0

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.