Zum Start des neuen Schuljahrs in Rheinland-Pfalz steht ein längerer und vielleicht etwas ungewöhnlicher Beitrag. Mir ist schon klar, dass man mit Prognosen vorsichtig sein muss, ich will mich aber trotzdem daran versuchen.
Ich freue mich sehr, zur Tagung „Offene Archive? Archive 2.0 im deutschen Sprachraum (und im europäischen Kontext)“ im November in Speyer eingeladen zu sein und zur Frage vortragen zu dürfen: „Was erwarten Geschichtslehrer von Archiven 2.0?„
Die Ferien habe ich genutzt, um den Vortrag etwas vorzubereiten und bin dabei zu der Überlegung gelangt, dass für die Archive der Ist-Zustand eigentlich weniger interessant ist. Für Online-Angebote, die vermutlich längerfristig angelegt sein wollen, interessiert vielmehr, welche archivischen (Online-) Angebote in nicht allzu ferner Zukunft für Geschichtslehrkräfte als potentielle Nutzer sinnvoll sein können.
Dafür sind aber zunächst Aussagen über Entwicklungstrends des Geschichtsunterrichts zu treffen. Ich habe also, wohl wissend um die Probleme eines solchens Vorgehens, versucht aufgrund der aktuellen Situation solche Trends zu identifizieren. Insgesamt habe ich dabei acht, z.T. stark interdependente Tendenzen herausgearbeitet, die ich hier zur Diskussion stellen möchte. Ich würde mich über Rückmeldungen und eine kritische Diskussion sehr freuen.
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8 Entwicklungstendenzen des Geschichtsunterrichts unter den Bedingungen der Digitalisierung
1. Veränderte Aufgabenkultur
Die ubiquitäre Verfügbarkeit von Informationen muss zu veränderten Aufgaben führen. Wenn ich eine Antwort in wenigen Sekunden googlen kann, dann ist nicht Google schlecht, sondern die Aufgabenstellung. Damit einher geht die Entwicklung in Richtung Kompetenzorientierung des Unterrichts. Das heißt nicht, dass es keine Inhalte mehr geben wird oder dass nichts mehr auswendig gelernt werden würde, aber es bekommt eine andere Funktion. Sie können das mit einer Fremdsprache vergleichen: Jahreszahlen, Namen sind wie Vokabeln, die Kompetenzen bieten eine Art Grammatik, die das sinnvolle Verknüpfen von Daten und Namen zu einer Geschichte ermöglicht. Wenn ich in einem Gespräch im Ausland jede Vokabel nachschlagen muss, kommt kein Gespräch zustande: Das gilt in Analogie auch für Geschichte. Was sich verschiebt sind die Schwerpunkte der Aufmerksamkeit, die nun viel stärker auf die Konstruktion von Geschichtserzählungen gerichtet ist und dafür das Handwerkzeug liefern muss, das heute grundlegend eben darin besteht, dass ich weiß, wie ich richtig und zielführend im Internet recherchiere.
2. Narrativität als zentrale Kategorie bzw. De-/Rekonstruktion als Vorgehensweisen des Unterrichts. Der Geschichtsunterricht wird noch weniger als bisher auf Ein-Wort-Antworten zielen, sondern das Verfassen eigener Geschichtsdarstellungen als Form der Re-Konstruktion sowie die De-Konstruktion bestehender Narrationen in den Mittelpunkt stellen.
Geschichte ist immer medial vermittelt. Mit der Digitalisierung stehen nun neue mediale Formen von Quellen zur Verfügung, die zudem viel leichter zugänglich sind. Aber auch die Form der von Geschichtsdarstellungen haben sich erweitert. Letztlich erweitert die Digitalisierung auch die Ausdrucksmöglichkeiten, Lehrer sprechen hier auch von Lernprodukten. Die Schülerinnen und Schüler sind nicht mehr darauf, sich mündlich, schriftlich in einer Klausur, einer Wandzeitung oder einem Hefteintrag zu äußern. Die Reichweite von Schülerbeiträgen war im Alltag in der Regel auf die Klassen-, mit kleinen Ausstellungen im Foyer vielleicht noch die Schulgemeinschaft limitiert. Diese Grenzen werden nun aufgehoben. Es stellt sich die Frage nach einem Zielpublikum für die Schülerproduktionen, aber das ist ein anderes Thema.
3. Schülerinnen und Schüler haben nun – wie alle anderen Menschen, im Sinne des mit Schlagwort Web 2.0 bezeichneten Phänomens der selbst erstellten Inhalten – neue, veränderte und erweiterte Ausdrucks- und Veröffentlichungsformen: Einfach und ohne weitere Kosten können nun multimediale Geschichtsdarstellungen erstellt und veröffentlicht werden (digital storytelling). Schülerinnen und Schüler können sehr einfach zur Begleitung oder als Ergebnis ihres Lernprozesses ein Blog oder Wiki erstellen, ein Podcast oder Video aufnehmen und aus dem Klassenraum heraus öffentlich zugänglich machen.
4. Damit einher geht eine abnehmende Bedeutung des Schulbuchs, das zur Zeit immer noch Leitmedium des Geschichtsunterrichts ist, zugunsten anderer Materialien: das werden Open Educational Resources, die auch für das Erstellen eigener Produkte genutzt werden können. Für Geschichte bietet sich bereits jetzt ein riesiger und immer weiter wachsender Fundus an z.B. freien Bildquellen, Kartenmaterial in den Commons der Wikimedia aber auch auf Flickr, wo in beiden Fällen Archive und Museen dazu beigetragen haben, die Sammlungen deutlich zu vergrößern. Die Angebote lokaler und regionaler Einrichtungen scheinen noch überschaubar und wenig bekannt. Für das Fach Geschichte bietet sich hier mit der Digitalisierung von Fotos, Filmen usw. eine Riesenchance, weil diese Materialien – vielleicht abgesehen von der Zeitgeschichte – tatsächlich frei zur Verfügung gestellt werden können.
5. Durch die vereinfachte Verfügbarkeit von Informationen und medialen Inhalten sowie die Digitalisierung der jugendlichen Lebenswelten kommen Schülerinnen und Schüler auch immer wieder mit unterschiedlichsten Deutungsangeboten zur Geschichte in Kontakt. Sei es nun in Spielfilmen, Dokumentationen, Werbung, in der Wikipedia oder politischen Argumentationen. Das ist alles nicht neu, erhält aber eine wachsende Bedeutung und nun auch zunehmend Aufmerksamkeit der Geschichtsdidaktik. Der Geschichtsunterricht wird diese Elemente aufnehmen müssen und dabei dann weniger versuchen, Schüler zu Historikern auszubilden, sondern sie kompetent im Umgang mit der Geschichtskultur zu machen. Dabei geht es um aktive und kritische Teilhabe. Insgesamt wird dies eine Aufwertung der Bedeutung von Zeugnissen der aktuellen Geschichts- und Erinnerungskultur mit sich bringen, die bisher eine völlig untergeordnete Rolle spielen und z.B. in den Schulgeschichtsbüchern bislang kaum vorkommen.
6. Die veränderte Aufgabenkultur und das Erstellen eigene Geschichtsprodukte unterstützen eine weitere Entwicklung, die zunächst vielleicht etwas widersprüchlich erscheinen mag: die wachsende Bedeutung von Lokal-/Regionalgeschichte für historisches Lernen in der Schule. Hier kann anschaulich und exemplarisch gelernt werden, ohne dass die Ergebnisse bereits fertig abrufbar im Netz stehen. Hier können Schüler auch selbst Arbeiten und Beiträge leisten für die Geschichtskultur vor Ort.
Gesellschaftlich und politisch (letzteres bestimmt ja weiterhin die Vorgaben für die Curricula) geht die Entwicklung in eine stärkere Ausrichtung auf Europa und die Welt im Sinne der verflochtenen Globalgeschichte als Bezugsrahmen. Das heißt, es könnte zu einem Rückgang der Dominanz der nationalen Meistererzählung als Orientierung und Leitfaden des Unterrichts kommen, der die meisten Lehrpläne in Deutschland und vermutlich vielen anderen europäischen Ländern weiterhin bestimmt.
Die beiden Entwicklungen scheinen zunächst widersprüchlich, sind es aber nicht. Sie sind vielmehr komplementär, sowohl im Sinne einer integrativen Geschichte vor dem Hintergrund zunehmender Migration als auch bei einer Didaktisierung der Globalgeschichte, in der es nicht um zusätzliche Inhalte, sondern um das Aufzeigen von Verflochtenheit gehen muss. In Analogie zu Politik und Wirtschaft könnte man von einem „glokalen“ Ansatz historischen Lernens sprechen.
Um das nicht zu abstrakt, sondern altersgerecht zu machen, bietet sich die eigene Region als Ausgangs- und Zielpunkt, nicht um die Besonderheiten und Leistungen, sondern um in einem transkulturellen Ansatz das Typische herauszuarbeiten:
in dem man „Prozesse interkulturellen Austauschs in der europäischen Geschichte in den Blick [nimmt], die über staatliche, nationale und kulturelle Grenzen hinauswirkten“ und „Europa als einen stets in Wandlung befindlichen Kommunikationsraum [zu beschreiben], in dem vielgestaltige Prozesse der Interaktion, Zirkulation, Überschneidung und Verflechtung, des Austauschs und Transfers, aber auch von Konfrontation, Abwehr und Abgrenzung stattfanden.“ (beide Zitate siehe : http://www.ieg-ego.eu/de/ego)
Beispiele dafür liefern auf wissenschaftlicher Ebene das EGO-Portal (Europäische Geschichte Online) des Leibniz-Instituts aus Mainz, aus dessen Selbstdarstellung auch das obige Zitat stammt, sowie auf schulischer Ebene das Projekt Classroom4.eu.
7. Dies alles bedingt eine Veränderung des Unterrichts mit einer Zunahme von offenen und projektartigen Formen mit einer Hinwendung zu mehr Verantwortung für die eigenen Lernprozesse durch die Lernenden. Die Ideen sind nicht neu, in ihren Ansätzen reichen sie oft über 100 Jahre zurück bis in die frühe Reformpädagogik. Wesentlich scheint aber, dass diese Formen heute zu der sich verändernden Lebens- und Arbeitswelt passen, an der sich Schule und Unterricht orientieren müssen. Zudem gibt es zwischen Formen offenen Lernens und Projektunterricht eine hohe Schnittmenge mit den Ideen und Möglichkeiten, die hinter den Schlagwörtern von Web 2.0 und Social Media stehen. Die „Methode des Projektlernens und die Voraussetzungen des digitalen Zeitalters” passen gut zusammen.
(http://pb21.de/2012/07/projektlernen-im-digitalen-zeitalter/)
Lisa Rosa definiert als 4 wichtigsten Merkmale dieses Lernens:
Lernen ist selbstbestimmt, personalisiert, kollaborativ und vernetzt.
Die Technik ist nachgeordnet und hat einen unterstützenden Charakter, aber sie vereinfacht und ermöglicht diese Lernformen.
Die Ausstattung der Schulen ist allerdings ein Hemmnis auf diesem Weg. Hier ist angesichts der knappen Kassen auch in der Breite keine Besserung in Sicht. Gleichzeitig ist aber zu beobachten, dass immer mehr Jugendliche eigene mobile Endgeräte (vor allem Smartphones, aber auch Tablets) besitzen, die sie in die Schule mitbringen und dort in der Regel aufgrund eines in den meisten Schulen geltenden „Handy-Verbots“ nicht nutzen dürfen. Diese Geräte sind mittlerweile nicht selten schneller und leistungsstärker als die schnell veralteten schulischen Computer. Für die Schulen stellt sich in den nächsten Jahren die Herausforderung auf didaktischer, organisatorischer und rechtlicher Ebene, diese mobiler Endgeräte der Lernenden in den Unterricht und schulische IT-Infrastruktur zu integrieren.
8. Sollten die kurz skizzierten Entwicklungen zutreffen, so eine folgt in einer zugegebenermaßen sehr optimistischen Einschätzung eine insgesamt (wieder) höhere Bedeutung des Geschichtsunterrichts innerhalb des schulischen Fächerkanons erhalten. In den letzten Jahren ist es wiederholt zu Reduktionen der Stundenzahlen und Zusammenlegen mit anderen Fächern zugunsten anderer Fächergruppen gekommen. Die Aufwertung des Fachs liegt nicht in einem wie immer zu gestaltenden inhaltlichen Kanon, sondern im Erlernen von grundlegenden Kompetenzen für die Wissens-/Informationsgesellschaft, die das Fach bietet. Nur Geschichte, und das ist einer der Alleinstellungsmerkmalen des Fachs, ist immer ausschließlich medial vermittelt. In einer digitalen, also vor allem medialen Welt darf sich das Fach Geschichte in der Schule auf die fachspezifischen Methoden und Inhalte konzentrieren und muss aber beginnen, deren gesellschaftliche Bedeutung zu kommunizieren.
Natürlich gibt es auch Faktoren, die den beschriebenen Entwicklungsmöglichkeiten entgegenwirken, so z.B.
– Das Zentralabitur (allerdings nicht in Rheinland-Pfalz), das in der Oberstufe lokal-/regionalgeschichtliche Themen weitgehend verhindert, weil sie nicht abiturrelevant sein können, es sei denn die Region wird als Ebene des Bundeslandes verstanden.
– Die genannten Stundenkürzungen des Faches sowie das Zusammenlegen mit anderen Fächern und die Schulzeitverkürzung im Rahmen von G8. Lernen, und besonders komplexes historisches Lernen, braucht Zeit.
– Zu beobachten sind zudem seit einigen Jahren (europaweit) Tendenzen einer politischen Re-Nationalisierung, die einhergehen mit entsprechenden Forderungen an Geschichtsunterricht.
– Zur Zeit fehlen das Digitale noch weitgehend in der Lehreraus- und teilweise auch -weiterbildung, jahrzehntelange Lehr- und Arbeitsroutinen, Abwehrhaltungen gegenüber digitalen Geräten in vielen Schulen, die oft noch fälschlich als reine Unterhaltungsmedien wahrgenommen werden, hohe Arbeitsbelastung, die nicht immer Zeit lässt, sich in Neues einzuarbeiten (Wandel benötigt Zeit und Arbeit).