Kann oder sollte man sogar die Frage nach der „digitalen Revolution“ im (Geschichts-) Unterricht thematisieren? Ein Bezug zur Lebenswelt der Lernenden und eine Orientierungsfunktion von Geschichte für die Gegenwart sind auf jeden Fall gegeben. Wir haben das mal versucht und ich stelle unser Vorgehen sowie mögliche Alternativen für den Unterricht hier kurz vor.
Vor einigen Wochen kam eine Kollegin, die als Diplom-Pädagogin auch im Pädagogischen Landesinstitut arbeitet, mit einer schönen Idee auf mich zu: Ihr Freund würde gerade eine berufsbegleitendes Studium zum Fotografen machen und müsste dafür als nächste Arbeit ein Tableau vivant erstellen. Sie würden gerne mit dem berühmtem Bild von Delacroix „Die Freiheit führt das Volk“ arbeiten und fragten an, ob ich nicht Lust hätte, da einzusteigen, um das gemeinsam mit einer Klasse rund um das Thema Revolution zu erarbeiten.
Das Bild bietet sich deshalb an, weil es sich zwar auf eine konkrete historische Revolution (die Juli-Revolution 1830) bezieht, aber zu einer ikonenhaften Darstellung der Revolution allgemein geworden ist. Daher wird das Gemälde ja auch gerne in Schulbüchern zur Auftaktillustration des Revolutionszeitalters gewählt.
Wir haben uns aus verschiedenen Gründen (Zeit, Stundenplan, Gruppengröße etc.) für den 12er Lk entschieden. Das Projekt lässt sich in der duchgeführten Form 1 zu 1 sicher nicht wiederholen, aber mit leichten Verändertungen würde ich es sowohl in der Ober- als auch in der Mittelstufe wieder im eigenen Unterricht durchführen.
Zunächst haben wir in einem spezifisch historischen Teil einen eigenen Revolutionsbegriff erarbeitet. Dazu haben die Schüler zunächst in Kurzreferaten historische Revolutionen vorgestellt, wir haben mehrere Definitionsansätze gelesen, verglichen und auf die Beispiele angewendet, um schließlich in Form eines Tafel-Wikis zu einer eigenen Begriffsdefinition zu gelangen.
Alternativ lässt sich die Unterrichtsreihe auch an die Besprechung der Französischen oder besser Industriellen Revolution anschließen, um dann diese konkreten Beispiele zur eigenen Definition des Revolutionsbegriffs heranzuziehen und mit der heutigen Entwicklung zu vergleichen.
In einem zweiten Schritt haben wir mit den Schülerinnen und Schüler ihre persönliche Nutzung des Internets thematisiert (im Gespräch ergab sich dann auch automatisch das Verhalten der Großeltern als Vergleichfolie) und durch die Digitalisierung verursachten gesellschaftlichen Wandel besprochen. Dazu haben wir über eine Lernplattform (Diigo) auch mehrere aktuelle Texte zur Verfügung gestellt, von denen einige die Entwicklungen eher positiv, andere eher negativ bewerten. Die Lernenden konnten zudem auch selbst Darstellungen recherchieren und ergänzend dort posten.
Die Diskussion erfolgte dann vor der Folie, ob es sich bei der aktuellen Entwicklung um eine „Revolution“ handelt oder nicht. Es war schnell klar, dass sich hier die für politische Revolutionen gültige Definition nicht anwenden lässt, sich die Veränderungen aber mit der Neolithischen oder Industriellen Revolution vergleichen lassen, wobei ein Schüler bereits bei seiner Kurzpräsentation darauf hingewiesen hat, dass hier die Anwendung des Revolutionsbegriffs problematisch ist.
Insgesamt kam der Kurs zu dem Schluss, dass wir uns schon in einem Zeitalter grundlegender struktureller Veränderungen befinden. Hiervon ausgehend haben wir dann versucht, das Bild von Delacroix auf die aktuelle Situation zu übertragen. Im Bild führt „die Freiheit“, führt heute jemand? Wenn ja, wer? Und wohin? Was sind die „Waffen“? Wer stellt sich dem Wandel in den Weg? Welche Barrikaden werden errichtet? Trotz des schwierigen Übertrags von einem Bild, das zu der zentralen Ikone für politische Revolution geworden ist, zu einer Darstellung struktureller Veränderungen, war die Sammlung durchaus ergebnisreich und wird in den kommenden Tagen durch den Fotografen in ein Tableau Vivant umgesetzt werden.
Bei der Arbeit erfolgte ein permanenter Abgleich mit den historischen Vorbildern, also eine ständige Reaktivierung des vorher Erarbeiteten. Den Lernenden wurde an ihren eigenen Personen klar, dass nie alle an gesellschaftlichen und technischen Änderungen partizipieren. Das nicht immer einfache Prinzip der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wurden allen durch den Bezug zu ihrer Lebenswelt sehr plastisch und verständlich. Außerdem bot das Thema Anlass, auch immer wieder Mediengeschichte, vor allem die Geschichte ihrer Nutzung zu thematisieren (Veränderungen durch den Buchdruck, Radio, Fernsehen usw.).
Natürlich arbeitet man als Lehrkraft normalerweise nicht mit einem Medienpädagogen und einem professionellen Fotografen zusammen. Ohne die beiden wäre ich nie auf die Idee gekommen und hätte mich vermutlich auch nicht an so ein Projekt getraut. Aber die beschriebene Unterrichtseinheit lässt sich aber auch ohne externe Hilfe umsetzen: Die Diskussion zur eigenen Mediennutzung der Schülerinnen und Schüler und deren Bewertung lief weitgehend selbstständig und brauchte nur einen geeigneten methodischen Gesprächsrahmen sowie entsprechende Impulse.
Wenn auch nicht professionell, so können natürlich auch die Schülerinnen und Schüler selbst ein Tableau Vivant als Foto machen. Statt des Fotos lässt sich auch denken, dass ebenso in jüngeren wie älteren Klassen entweder das Bild von Delacroix neu gezeichnet oder zumindest skizziert oder alternativ digital mit einem Bildbearbeitungsprogramm verändert und überarbeitet wird. Dieses handlungsorientierte Vorgehen am Ende zwingt zum Konkrektisieren. Das ist nicht einfach, aber löste zumindest bei der jetzigen Durchführung noch einmal wichtige Diskussionen und Denkprozesse aus.
Übrigens ein interessantes Ergebnis der Debatte zur Umsetzung ist, dass sich die Gruppe der Revolutionäre auflöst und mit verschiedenen „Fahnen“ in nur teilweise und lose miteinander verbundenen Gruppen in dieselbe Richtung laufen, was zugleich die zentrale Rolle digitaler Medien im Alltag der meisten (nicht aller!) Lernenden der Gruppe wie deren völlig unterschiedliche, individualisierte (auch bewusste Nicht-) Nutzung (Mp3, WoW, Facebook, Wikipedia etc.) widerspiegelt.
Die Schülerinnen und Schüler haben in dem Projekt nicht nur einen sehr differenzierten und reflektierten Revolutionsbegriff erworben, sondern auch auch ihr Blick auf idealisierende Darstellungen von historischen Revolutionen hat sich verändert. Auf jeden Fall bin ich sehr gespannt auf die fotografische Umsetzung dieser Ideen….
Update: Unten auf der Seite der Fachschaft Geschichte unserer Schule findet sich das Foto sowie ein kurzer Bericht aus Schülersicht.
Schade, es war eine so gute Idee!
Es gibt ja auch noch andere Revolutionsbegriffe als den politischen. Wenn wir von der sozialen Revolution sprechen (das tun wir z.B. bei der industriellen Revolution), dann meinen wir einen anderen – ebenso wissenschaftlich begründeten Revolutionsbegriff. Schade, dass das im Unterricht nicht thematisiert wurde, denn es ist unerlässlich, zu verstehen, dass es in der Dimension verschiedene Revolutionsbegriffe gibt, die sich NICHT gegenseitig ausschließen, und dass man den Begriff der sozialen (im Sinne von sozietaler) Revolution und zusätzlich noch einen Epochenbegriff braucht, der thematisiert, wonach Epochen eigentlich eingeteilt werden (ists der traditionelle, der Marixistische oder der Michael-Gieseckesche?), um alle Konzepte der Medienrevolution überhaupt verstehen und anschließend beurteilen zu können.
So gesehen ist gute Lernchance vertan und stattdessen Oberflächlichkeit im Begrifflichen (Alltagsbegriff statt wissenschaftlichen Begriffs) bestätigt worden.
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Liebe Lisa Rosa,
bitte nochmal lesen: Es wurden verschiedene wissenschaftliche Revolutionsbegriffe thematisiert anhand einiger Texte aus dem Geschichtsbuch Oberstufe (in analoger Kopie! ;)), die dann zu Grundlage der eigenen Definition gemacht wurden.
Auch dass es Zusammenhänge gibt wurde angesprochen (das hatte ich nicht geschrieben), dass die sozialen, technischen und wirtschaflichen Veränderungen z.B. in der Industralisierung auch zu politischen Veränderungen geführt haben.
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Naja, es war in Deinem Bericht nur von einem „problematischen Revolutionsbegriff“ die Rede, und das im Indikativ, also gesetzt, sodass es so aussieht, als wäre der Begriff der Revolution bei Neolithikum und Industrialisierung problematisch.
Meine Vorstellung, dass außerdem auch über Periodisierungsbegriffe zu sprechen wäre, halte ich außerdem aufrecht, denn: Sozi(et)ale Revolutionen führen zu neuen Epochen. Und auch wenn man den Begriff der sozialen Revolution ablehnte, müsste man doch die Frage klären: Was sind Merkmale einer neuen Epoche und wie kommt es dazu? Denn sonst können die Schüler nur mit einem Entwicklungsbegriff arbeiten – alles entwickelt sich aus dem vorhergehenden mehr oder weniger gleichmäßig, also im evolutionären Optimierungsmodus – aber nicht mit einem gesellschaftsbezogenen Transformationsbegriff, der disruptive, revolutionäre Sprünge erklärt.
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Wen es interessiert: Das fertige Foto aus dem Projekt steht jetzt online auf den Seiten der Fachschaft Geschichte meiner Schule – ziemlich versteckt, ganz ganz unten auf der Seite:
http://www.eichendorff-koblenz.de/?page_id=1015
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Danke für den Erfahrungsbericht – hört sich wirklich spannend an. Ich bin gerade dabei, in meiner 5. Klasse die neolithische Revolution zu behandeln. Zusammen mit dem Epochenbegriff, der in der 5. Klasse ebenfalls geprägt werden sollte, ist das ein ganzes Stück Arbeit. Ich werde mir für meine nächsten ‚Fünfer‘ eine andere Vorgehensweise überlegen und dann bestimmt noch einmal Deinen Artikel durchlesen 😉
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Anbei noch der Hinweis: Der Fotograf hat das bearbeitete Foto auf seiner Homepage eingestellt. Wer das Ergebnis des Projekts sehen möchte, findet es hier: http://www.fothos.de/projekte/tableau-vivant/
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