Gestern habe ich einen Artikel von Wulf Kansteiner („Alternative Welten und erfundene Gemeinschaften: Geschichtsbewusstsein im Zeitalter interaktiver Medien“, in: Erik Meyer (Hg.), Erinnerungskultur 2.0. Kommemorative Kommunikation in digitalen Medien, Ffm/N.Y. 2009, S. 29-54.) gelesen, der mich im positiven Sinn verunsichert, also zum Nachdenken angeregt hat. Folgt man der Argumentation von Kansteiner, so müsste das geschichtsdidaktische Konzept „Geschichtsbewusstsein“ grundlegend in Frage gestellt werden.
Das Geschichtsbewusstsein hat sich zu einer der zentralen Kategorien der Geschichtsdidaktik entwickelt. In der Darlegung der verschiedenen Dimensionen des Geschichtsbewusstsein geht Pandel von einem „Wirklichkeitsbewusstsein“ aus, das das Individuum dazu befähigt zwischem Real/Historischem und Fiktionalem/Imaginären zu unterscheiden. Die Möglichkeit dieser Unterscheidung ist grundlegend für das Konzept von Geschichtsbewusstsein. So wird eben auch immer wieder darauf hingewiesen, dass jüngere Kinder diese Unterscheidung eben noch nicht treffen können.
Quasi selbstverständlich wird man den meisten Erwachsenen diese Fähigkeit zubilligen. Sie können (in der Regel) einen Roman von einem Sachbuch, einen Fantasyfilm von einer Dokumentation usw. unterscheiden und werden diese jeweils anders verarbeiten. Aus einigen Untersuchungen zur Oral History ist allerdings bekannt, dass Zeitzeugen in ihre Erzählungen Elemente fiktionaler Literatur und Filme einbauen, die sie als eigene Erfahrungen erinnern. Im Rückblick werden Fiktion und Realität offensichtlich nicht unterschieden, sondern werden zumindest teilweise in einer Erzählung miteinander verflochten. Mir ist nicht bekannt, dass dieses Phänomen in der Empirie oder Theorie zum Geschichtsbewusstsein bisher berücksichtigt worden wäre (Falls doch, wäre ich für entsprechende Literaturhinweise dankbar!).
Kansteiner geht von eben dieser Grundannahme aus, dass in der Erinnerung nicht mehr zwischen Real und Fiktiv unterschieden werden kann. Er argumentiert, dass die Verwischung sich durch die digitalen und interaktiven Medien, vor allem was Videospiele und virtuelle Welten angeht, in Zukunft verstärken wird. Erinnert wird in Abhängigkeit von der Intensität ausgelöster Emotionen. Die Immersion in immer realistischer anmutende digitale (Alternativ-)Welten fördert emotionales Erleben bzw. zielt direkt darauf ab. Besonders trifft dies natürlich auf die Übernahme von Rollen als Handelnder in Spielen zu, in denen das einfache Nachspielen vorgegebener Handlungsstränge zugunsten interaktiver Möglichkeiten der Kreation eigener Erzählungen abnimmt.
Kansteiner geht nur kurz darauf ein, aber ich würde stärker betonen, dass die Übernahme von fiktionalen Elemente als Eigenes in die Erinnerung bei allen fiktionalen Werken, die ein Individuum berühren/ihm oder ihr nahe gehen, schon immer der Fall ist; und dies bei jedem, nicht nur bei Zeitzeugen. Diese erinnerten „Erfahrungen“ tragen natürlich auch zur historischen Sinnbildung bei, die damit also keineswegs so rational wäre, wie die geschichtsdidaktische Theorie bisher vorgibt (wenn ich das denn richtig verstanden habe).
Was aber bedeutet es für die Theorie des Geschichtsbewusstsein, für historisches Lernen allgemein und den schulischen Geschichtsunterricht speziell,
– wenn der Einzelne zwar beim Anschauen, Lesen oder Spielen bewusst zwischen Realität und Fiktion unterscheiden kann (oder diese Unterscheidung z.B. im Geschichtsunterricht erlernt),
aber in der Erinnerung diese Grenze aufgehoben wird,
– fiktionale, kontrafaktische Geschichtserzählungen und Vergangenheitsdeutungen in Teilen als eigene Erfahrungen und Erkenntnisse erinnert werden
– und sich daraus Vorstellungen und Konzepte von Geschichte generieren?
Gutes Beispiel: 300. Selbst Schüler in der 6. Klasse haben den Film schon gesehen. Er ist ja auch an vielen Stellen faktisch korrekt. Die Darstellung der fremden persischen Völker als dekadente, verkrüppelte und moralisch verwerflich dargestellte Kontrahenten des „guten und Reinen“ tauchen immer wieder im Gedächtnis auf, selbst wenn man sein historisches Bewusstsein bewusst davon „reinhält“ das ganze zu vermischen. Wie soll das erst bei Schülern aussehen. Die kennen zwar alle griechischen Götter von „Age of Mythology“, würden aber auch jeden dazwischen frei erfundenen Helden oder Gott in die griechische Sagenwelt einordnen.
Das Problem besteht, keine Frage.
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Meines Erachtens besteht diese Phänomen nicht erst seit es Filme oder interaktive Medien gibt. Auch bei (mündlichen und schriftlichen) Erzählungen, Märchen, Sagen oder Romanen mischen und mischten sich Geschichte und fiktionalisierte Elemente, wodurch fiktive Elemente Eingang ins Geschichtsbewusstsein fanden (meinetwegen wie die vom „Erbfeind Frankreich“, bei der auch tatsächliche Ereignisse und Fiktion gemischt wurden). Daher würde ich auch die These vertreten, dass dies bei allen fiktionalen Werken der Fall ist.
Kansteiner würde ich allerdings entgegen halten (ohne das bislang empirisch belegen zu können), dass nicht nur die Emotion eine große Rolle für die Erinnerung spielt, sondern mindestens ebenso die Bildlichkeit: Man hat eben etwas „Lebendiges“ vor dem inneren Auge, sei es, indem man Bilder aus Filmen oder virtuellen Welten übernimmt oder diese aufgrund von Romanen etc. übernimmt (was oft so wunderbar durch die exakten Schilderungen und Beschreibungen der Figuren, Stimmungslagen, Ereignisse etc. funktioniert).
In meinen Augen kann man dieses Phänomen aber durch das Ziel eines reflexiven und reflektierten Geschichtsbewusstseins auffangen (was bislang nicht klappt – vielleicht weil dem zu viele vorgegebene Inhalte „im Weg stehen“?). Das Ziel sollte meiner Meinung demnach darin bestehen, sich der Grundprinzipien von Geschichte bewusst zu werden (also auch der eigenen Konstruktion und Perspektivität) und die eigenen Vorstellungen immer wieder auf die Argumentationsstruktur und die Berücksichtigung „wissenschaftlicher“ Methoden zu prüfen. Dann kann man in der Rückschau zwar nicht mehr klar unterscheiden, welche Vorstellungen real bzw. fiktiv sind, aber man ist sich wenigstens bewusst, dass beides der Fall ist. Zudem könnte man durch die Überprüfung mittels einer möglichst objektiven Rekonstruktion von Geschichte den fiktiven Elementen zumindest etwas auf die Spur kommen. Natürlich muss zu diesen Vorgängen aber erst einmal die Bereitschaft (und die Fähigkeit) bestehen – und dies gilt es in meinen Augen (im Geschichtsunterricht) zu fördern.
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Vielen Dank für die beiden ausführlichen Kommentare. Es hat u.a. wegen der Konferenz etwas gedauert, aber ich möchte doch noch darauf reagieren, weil mich das Thema auch beschäftigt. Auf der Konferenz in Berlin kam es leider nicht zur Sprache. Spiele und virtuelle Welten standen nicht auf der Tagesordnung.
Bei Kindern oder jüngeren Schülern ist das vermutlich ein normales und in der Psychologie auch vergleichsweise gut erforschtes Phänomen. Nun geht aber der Unterricht, besonders der in Geschichte davon aus, dass man die Lerner mit zunehmender Reife eben genau diese Unterscheidung erlernen können. Dies gelingt in der Regel auch. Kaum ein 18jähriger wird Comichelden und griechische Götter durcheinander schmeißen. Das Spannende bei Kansteiner ist m.E., dass er davon sagt, dass eben auch Erwachsene im Rückblick, in der Erinnerung Fiktives und Reales nicht trennen können.
Und ja, genau: Wenn das so ist, dann hat es dann immer schon gegeben. Wir dürfen davon ausgehen und dafür gibt es ja auch Belege, dass Geschichten in anderen medialen Formen auf die Menschen jeweils zu ihrer Zeit ebenso stark gewirkt haben wie heute virtuelle Welten auf uns. Neben der Emtionalität spielt sicher die Bildhaftigkeit und mögliche Identifikationen mit Situationen oder Rollen der Geschichten bei der Übernahme in die eigene Erinnerung eine große Rolle.
Diese Annahme hat weitreichende Konsequenzen, auch für die Geschichtswissenschaft: Das heißt ja, dass besonders in Ego-Dokumenten mit der Übernahme fiktiver Elemente as eigene Erinnerung zu rechnen ist. Diese Erkenntnis kommt aus der Oral History, wo uns Vergleichsquellen und die fiktionalen Vorlagen (Romane, Filme) vorliegen. Für Zeiten, in denen Geschichten ausschließlich oder übergehend mündlich überliefert wurden und uns Vergleichsquellen fehlen, stößt die historische Quellenkritik vermutlich an ihre Grenzen.
Ich denke auch, dass ein kompetenzorientierter Geschichtsunterricht, der kritisches Denken und Hinterfragen fördert, am besten geeignet ist, um diesem Phänomen zu begegnen. Oder anders gesagt: Gehen wir davon aus, dass die geschilderte Annahme zutreffend ist, ist dies ein weiterer Grund für eine Kompetenzorientierung.
Und daraus folgt noch etwas: Wir (wir Geschichtslehrer) müssen uns frei von der Vorstellung machen, der „Stoff“ in seiner „Fülle“ ließe sich didaktisch reduziert in kleine Pakete packen und würde so rezipiert und verstanden, wie er im Buch oder Lehrervortrag präsentiert wird. Am besten würden wir uns von dem Metaphernkonzept des „Stoffs“ vollständig verabschieden (wie wäre es mit einem Verbot in den Lehrerzimmer und einem Euro ins ‚Schweinchen‘ wer weiterhin von Stofffülle spricht ;)) Diese mentale Konzept verstellt m.E. das Verständnis der Kompetenzorientierung und ist dafür mitverantwortlich, dass oft aneinander vorbei gesprochen wird.
Stattdessen gilt es anzuerkennen, dass Lehrkräfte auch jetzt keine Kontrolle darüber haben, welche Vorstellungen Lernende aufgrund des Unterrichts entwickeln, weil diese höchst individuell sein können. Das war auch früher nicht so, belegt sind allenfalls die Reproduktion sozialer erwünschter Deutungen. Das ist heute nicht viel anders.
Diese Konstruktion individueller Vorstellungen auf der gleichen „Materialgrundlage“ erklärt übrigens zum Teil die in Klassen- und Lehrerzimmer häufig gehörten Klagen: Warum „wisst“ ihr das nicht, wir haben das doch gemacht im Unterricht. Oft wird dafür dann die „Faulheit“ und das „Desinteresse“ der Lernenden dafür verantwortlich gemacht. Was wir leisten können, ist mit ihnen die Grammatik und den Wortschatz der Geschichte zu erarbeiten, der sie befähigt, über Geschichte zu kommunizieren, also selbst zu konstruieren, die Geschichtserzählungen anderer zu verstehen, Deutungen zu erkennen und diese prüfen zu können.Damit sind sie dann fit, da würde ich Britta Wehen zustimmen, eigene Unsicherheiten zu prüfen, sofern sie die Übernahme fiktiver Elemente als eigene Erinnerung überhaupt als „Unsicherheit“ erkennen (das ist ja genau das Problem). Kontrollieren können wir das aber nicht.
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