Eine ebenso gute wie berechtigte Frage, wie ich finde. Lesenswert auf jeden Fall der Beitrag dazu von Frank Pohle auf dem Blog der AG Frühe Neuzeit. Spontan würde ich sagen, dass es sich hierbei um keine Mode, sondern eine grundlegende Neuorientierung handelt bzw. handeln könnte, da es für ein ausgewogenes Urteil noch etwas früh scheint. Für den Geschichtsunterricht, denke ich, ist statt ausufernder Jahreszahlenkataloge vor allem eine Ausrichtung auf eine „richtig verstandene Kompetenzorientierung“ wichtig, wie mehrfach von Andreas Körber eingefordert. Diese könnte sehr gut mit einer stärkeren europäischen oder globalen Perspektive einhergehen. Was die „staatsbürgerlichen Erziehung“ angeht, sehe ich eigentlich kein Problem. Vielmehr braucht diese heute m.E. eine breitere, eben europäische oder sogar globale, Perspektive statt eines nationalstaatlichen Fokus. Die Inhalte von Lehr- und Rahmenplänen sind jedoch weder nur wissenschaftlich orientiert noch glücklicherweise ausschließlich Ausfluss von Verbandsarbeit, sondern letztendlich in hohem Maße politische Setzungen.
Hinzu kommt, und das halte ich für die Entwicklung des Geschichtsunterrichts für ebenso bedeutsam, dass es zwar nicht darum geht, Historikerinnen und Historiker auszubilden, wir aber im Geschichtsunterricht mit den Methoden unserer Wissenschaft grundlegende Kulturtechniken für das digitale Zeitalter vermitteln können.
Bis vor wenigen Jahren war es im Wesentlichen Sache von Historikern (und u.a. Journalisten) mit einer geballten Informationsflut bei der (Archiv-) Recherche umzugehen und Quellenkritik zu betreiben. Heute muss jeder User im Internet über entsprechende „Kompetenzen“ verfügen.
Ergänzend ergeben sich noch Fragen nach Auswahl und Relevanz von Informationen, sowohl für die Bearbeitung von Klausuren wie für das „Leben im Netz“. Diese scheinen für Schüler äußerst schwierig zu sein, wie die Untersuchung über Abiturarbeiten in NRW von Schönemann/Thünemann nahelegt.
Ich habe den Eindruck, dass diese Aspekte, die zu einer deutlichen Aufwertung des Fachs innerhalb des bestehenden Fächerkanons führen könnte, noch nicht überall angekommen bzw. bewusst sind. Das ist jetzt keineswegs eine leere Behauptung, sondern eine Beobachtung aus der Praxis: Im Programm „Medienkompetenz macht Schule“ betreuen wir hier in Rheinland-Pfalz fast 400 weiterführende Schulen, die dabei sind, schulinterne Medienkonzepte zu entwickeln. Bei der Sichtung der bisher vorliegenden Konzepte fällt auf, dass der Beitrag der Fachschaften Geschichte sehr bescheiden ausfällt oder gar nicht vorhanden ist. Oft wird nur darauf verwiesen, dass man die Arbeit mit Karikaturen einübe, das Thema „Propaganda“ im Nationalsozialismus behandle oder die Schüler Vorträge hielten. Das ist gut und richtig, aber hier bestehen noch viel mehr Schnittflächen von allgemeiner Medienbildung und historischem Arbeiten, die aber offensichtlich nicht erkannt werden.
Die Übertragbarkeit der im Geschichtsunterricht vermittelten Methoden und Kompetenzen muss natürlich nicht nur den Lehrenden sondern auch den Lernenden bewusst gemacht werden. Dies kann u.a. durch das Auswählen, Analysieren und Bewerten von geschichtskulturellen Produkten (vor allem von Geschichtsdarstellungen in Büchern, im Internet, in Filmen aber auch Computerspielen) erfolgen ebenso wie durch handlungsorientierte Produktion von eigenen Darstellungen (bzw. Narrationen). Also durch De- und Rekonstruktion, soweit nichts Neues.
Der Geschichtsunterricht ist auch immer Spiegel seiner Zeit. Insofern verwundert es nicht, dass in einer zunehmend visuell geprägten Welt, Bilder und Filme eine größere Rolle spielen als früher. Dabei vermischen sich verschiedene Einflussfaktoren: die vermeintlich attraktivere Gestaltung von Schulbüchern, die Sehgewohnheiten der Schüler, der „visual turn“ der Bezugswissenschaft, um nur einige zu nennen.
Hier könnten übrigens Siegel eine interessante Erweiterung der geläufigen Quellenarten bieten, gerade aufgrund ihrer Qualität als komplexe und im Wesentlichen visuelle Zeichen. Aber außer einer illustrativer Funktion in Schulbüchern und der allgemeinen Einführung in verschiedene Quellenarten und/oder die Archivarbeit kenne ich bislang keine Unterrichtsideen zum Einsatz von Siegeln im Geschichtsunterricht.
Um zur Ausgangsfrage zurückzukehren: Ich denke, man muss sich fragen, was kann die Frühe Neuzeit als Epoche originär bieten, das zu diesem veränderten Geschichtsunterricht beitragen kann, um ihre Rolle im Geschichtsunterricht zu stärken. Bei einer möglichen globalgeschichtlichen Ausrichtung liegt dies auf der Hand, bei den anderen genannten Aspekten wäre dies noch zu prüfen. Hilfreich könnte es sein, dass Wissenschaft und Praxis gemeinsam entsprechende Materialien zur Frühen Neuzeit für den Unterrichtseinsatz entwickeln und z.B. über eine zentrale Plattform im Internet den Lehrkräften kostenlos zur Verfügung zu stellen.
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du sagst:
> Was die „staatsbürgerlichen Erziehung“ angeht, sehe ich eigentlich kein Problem. Vielmehr braucht diese heute m.E. eine breitere, eben europäische oder sogar globale, Perspektive statt eines nationalstaatlichen Fokus. <
das gilt selbstverständlich auch für geschichtsunterricht. ich kann mir einen sinnvollen geschichtsunterricht überhaupt nur noch als unterricht über die geschichte der menschheit vorstellen, nicht mehr als die "geschichte der deutschen". allein diese konstruktion zeigt doch ihre gebundenheit an die nationalstaatenzeit! und sie trägt kräftig – auch heute noch – zu einem nationalstaatlichen, in unserem falle auch noch ethnisch konstruierten bewusstsein bei. menschheitsgeschichte als fach könnte die longtermfragen viel besser in den blick nehmen, und dortselbst die unterschiedlichen perspektiven und problemlösungen der menschheit bearbeiten. nur so macht es doch auch sinn, dass in allen ländern genozid am beispiel des holocaust als eine erscheinung des 20. jahrhunderts thematisiert wird. und klar muss gleichzeitig forschendes lernen an ereignissen auf der lokalen, regionalen, nationalen ebene betrieben werden, quasi GLOKALER geschichtsunterricht. das switchen also die permanente fokusänderung zwischen "nah" – lokal – und "übersicht" – global gehört sicher zu einer der wichtigsten kompetenzen
und na klar muss politische bildung vor allem globale perspektiven berücksichtigen, gleichzeitig muss sie als demokratie-erziehung lokal und dort praktisch werden. die europäische perspektive, wenn es sie als DIE überhaupt gibt, ist ja so, wie sie bisher aussieht auch partikular, bezogen auf eine globale – das schengenabkommen ist ein beispiel. zum problem, dass auch innerhalb europas noch fleißig nationale interessen gegeneinander verhandelt werden, übrigens heute in gfp interessant: http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/57953
was die wertschätzung des geschichtsunterrichts in der schule als das fach, in dem historisch denken gelernt werden könnte, angeht, werde ich immer pessimistischer. allein das winzige stundenvolumen, das auch noch in zusammensetzungsfächern wie "Gesellschaft" weiter geschrumpft wird … dort wiederum fehlt der soziologische Blick, um gesellschaftstheorie zu ermöglichen … und einiges von dem, was in historischem denken wichtig ist, ist ja außerdem epistemologisches und gehört in die philosophie. pädagisch und erkenntnistheoretisch sinnvoll sind fächerübereifende konstruktionen wie "natur" oder "gesellschaft" sicher – aber auf keinen fall als stunden-sparmodelle.
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Vielen Dank für Deinen Kommentar und den interessanten Link! Mit dem Switchen zwischen den Ebenen, um forschendes Lernen zu ermöglichen, würde ich Dir voll zustimmen. Eine mögliche „europäische“ Perspektive ist natürlich keineswegs naturgegeben, sondern ebenso eine Konstruktion wie die nationale oder globale.
Was die starke nationalstaatliche Fokussierung angeht, vermitteln erfolgreiche Fernsehserien wie „Die Deutschen“ nicht nur falsche Vorstellungen, sondern tragen vermutlich mindestens ebenso, wenn nicht noch mehr zur Ausbildung eines Geschichtsbildes bei als Schule und Unterricht.
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